Menschen, Leben, Tanzen, Welt

Liebe Freunde: hier kommt ein ausschnitt aus meinem Zwischenbericht. Neue Texte kommen balt. Ich freue mich schon darauf

Menschen

Alles begonnen hat hier mit meiner Ankunft am 6.September 2017 in Abidjan, der Hauptstadt dieses im Westen Afrikas gelegenen Landes. Seit nun schon vier Monaten bin ich hier und habe in dieser Zeit, die schneller als alle Zeit meines vorherigen Lebens verflogen ist, einiges an mir und vielleicht auch manches vor Ort verändert. Ich lebe hier gemeinsam mit drei Mitbrüdern (SDB) zusammen, die trotz aller Probleme zu richtigen Brüdern für mich geworden sind. Im Gebäude nebenan wohnen sechs Schwestern (FMA), auch zu diesen pflege ich guten Kontakt. Das ganze Projektgelände besteht aus dem Areal einer Kirchengemeinde (Parroisse Saint Thérese de l’enfant Jesus) und einer Plantage (Kakao, Kaffee, Kautschuck). Auf dem bewohnten Gebiet gibt es eine alte (zu klein gewordene) und eine neue Kirche, Wohnbereich für die Brüder und die Schwestern, einen kleinen Krankenflügel, eine Bühne mit Ränge für bis zu 3000 Besucher, eine Berufsschule Centre Professionnel Artisanal et Rural (CPAR), ein Sportareal, ein Foyer für bis zu 40 Jungs und ein Foyer für Mädchen (dieses Jahr knapp 70 Mädchen). Vom Haupthaus der Salesianer geht man jeweils ca. 300m bis zu den Foyers und nochmal 200m bis zum CPAR. Etwa fünfzig Prozent des gesamten Geländes macht dieser Teil aus, der Rest ist die (auch von den SDB bewirtschaftete) Plantage.

Vom Leben

Ich lebe hier im Foyer Saint Jean Bosco (zu Deutsch: Foyer des Heiligen Johannes Bosco) und betreue hier rund um die Uhr 36 Jungs, die im Alter zwischen 10 und 25 Jahren sind. Das Alter kann man leider nicht so genau bestimmen, weil sie es oft selbst nicht wissen. Außerdem kann das geistige Alter je nach Tagesform schon mal um die zehn Jahre schwanken. Manchmal verhalten sich selbst die 20-jährigen wie kleine Kinder. Eine spannende, oft sehr spaßige und doch anstrengende Sache. Rund um die Uhr heißt, dass ich tatsächlich 24 Stunden, sieben Tage die Woche im Foyer, oder zumindest auf dem Gelände der Parroisse bin. Nur selten verlasse ich für kleine Einkäufe oder Spaziergänge das Areal. Betreuen heißt hier, dass ich die Jungs morgens um 05:00 Uhr wecke und wir dann gemeinsam ca. eine halbe Stunde lang arbeiten. Es wird gekehrt und geputzt. Danach bereiten sich einige auf die Schule vor und die Anderen gehen nochmal bis um 08:00 Uhr ins Bett. Ich selbst lege nach dieser Arbeit auch nochmal zwischen 05:30 und 07:00 Uhr einen kleinen Morgenschlaf ein. Danach bereite ich meinen Englischunterricht vor, den ich Montag-, Dienstag- und Mittwochmorgens im CPAR jeweils eine Stunde gebe. Bis es soweit ist, dass ich mit meinen Schülern Englisch lerne, helfe ich häufig den Jungs nochmal eben bei Hausaufgaben, spiele mit ihnen Dame, Tischkicker, UNO, TamTam oder ähnliche lustige Sachen. Wenn mal einer der Jungs krank ist, gehe ich mit Ihm zur Krankenschwester oder auch mal ins Krankenhaus, oder verarzte, bei kleinen Blessuren, schon auch mal selbst (Martin, der Medizinmann). Der Rest vom Vormittag geht also mit allen möglichen solchen kleinen Dingen um 12:30 Uhr zu Ende, denn dann beginnt das Mittagessen, welches ich mit den Brüdern, also nicht mit den Jungs, zu mir nehme (Danke an Mama Amelie – kocht afrikanisch-gut!). Den Nachmittag starte ich dann mit einem echt nötigen Mittagschlaf. Von 13:30 – 14:45 Uhr lieg ich meistens auf dem Ohr. Bis die Jungs und ich um 15:30 Uhr mit der Mittagslerneinheit wieder ran müssen, erledige ich andere Aufgaben (wie zum Beispiel Zwischenberichte oder Blogbeiträge schreiben, mit den Pères die Lage besprechen, mit der Mama im Foyer reden…). Dann betreue ich, nachdem ich meine Rolle als (manchmal vielleicht etwas ungnädiger) Weckdienst ausgeführt habe, die Mittagsetüden. Die Jungs sind hier eigentlich immer müde. Nicht zuletzt das Klima macht den Menschen zu schaffen. Schulwege von bis zu 45 Minuten durch die pralle Sonne sind auch anstrengend. Oft hat es mehr als 34°C und die Luftfeuchtigkeit ist sehr hoch. Meistens lerne ich gemeinsam mit den Jüngeren (zwischen 10 und 13 Jahren) Lesen. Punkt 16:30 Uhr geht es dann zum Sport weiter. Oft speieln wir Fußball, wobei die Jungs hier teilweise echte „Fußballgötter“ sind. Der Rest des Abends, von 18:00 – 19:00 Uhr steht dann den Jungs zum Duschen und Spielen, Tanzen oder so frei. (Beliebte Möglichkeit auch: Schlafen!) Denn nach dem Abendessen beginnt um 20:00 Uhr die letzte Lerneinheit des Tages, die um 21:45 Uhr mit einem „Mot du Soir“ und einem Gebet beendet wird. Um 22:30 Uhr ist dann mit dem „Couvre Feu“ Ende des Tages. Lerneinheiten am Abend betreue ich nur Sonntags und Donnerstags. Die restlichen Tage wechseln sich die Pères ab.Wenn einer der Pères eben keine Zeit hat, dann übernehme ich schonmal auch ein drittes oder viertes mal die Abendetüden. Mittwochs und Samstags wird jeweils noch zwei Stunden Arbeit eingelegt, während denen Reis geputzt, Wiesen gemäht, Brennholz gesammelt, das Klo und auch der Rest des Hauses geputzt wird. Soviel zum Arbeitsleben.

Vom Tanzen

Tanzen?! Naja, hier wird zwar viel getanzt und gesungen (die kleine TamTam kommt fast jeden Freitag zum Einsatz), doch diese sportlich, gemeinschaftlich und spaßig hochwertige Aktivität verdient wohl kaum den Platz eines eigenen Kapitels – Oder doch?

Tanzen können die Menschen hier. Und das auf ganz viele Arten und Weisen. Manchmal habe ich das Gefühl, die Leute tanzen durch ihr Leben und das, egal wie steinig, kurvig oder steil ihr Lebensweg ist. Selbst ein Stolpern über einen Stein, oder das Straucheln unter der schweren Last des Wasserkanisters auf dem Kopf veredeln viele mit einem Lächeln zu einer kuriosen Tanzfigur, die so noch niemand gesehen hat. Der Volkssport „Tanz“ bringt hier nicht nur ein Gefühl von Gemeinschaft und Geborgenheit, sondern ist, glaube ich, auch Überlebensstrategie: Wer nicht alles so ernst nimmt, Probleme und Umstände, die er nicht lösen kann einfach akzeptiert und hin und wieder mal seine Emotionen zum Ausdruck bringt und nicht alles in sich hinein frisst, ist für mich ein Tänzer. Der Drahtseilakt „Leben im gering entwickelten Afrika“ kann mit rythmisch-beschwingter Gesinnung meiner Meinung nach einfach besser gemeistert werden. Und ich lerne daraus: Das Leben hier bringt mir bei, wie man durch tanzen vieles leichter meistert, oder veredeln kann. Wie man die schweren Dinge etwas gelassener nimmt und nicht aufgibt. Die Menschen hier zeigen mir, dass man sich auch unter lausigsten Lebensbedingungen freuen kann. Wenn ich morgens verschlafen aufstehe, wenn ich keinen Bock auf alles habe, wenn mir alles zu viel wird, wenn mich Heimweh und Einsamkeit packen, dann versuche ich durch mein Leben zu tanzen.

Und nun noch Welt

Hier in der Elfenbeinküste erlebe ich eine ganz andere Welt, als ich sie in Deutschland erlebt habe. Mein Vater sagte einmal, während unserer gemeinsamen Rundreise durch die Elfenbeinküste: „ich könnte genauso gut auf einem anderen Planeten sein. Hier ist alles anders!“ Das fängt schon mit der roten Erde an, geht über das Klima, bis hin zu der ganz anderen Kultur und natürlich den finanziellen Verhältnissen. Diese andere Welt erlebe ich mit meinen Jungs, die ich, da ich täglich mit ihnen zusammen bin, sehr gut kennen lernen darf. Ich konnte diese Welt aber auch sehr intensiv auf meiner „Elfenbeinküste-Rundreise“, die ich als „Voluntourist“ während Weihnachten mit meinen Eltern erlebt habe, erfahren. Vieles schockiert mich jeden Tag aufs Neue, manches macht mich traurig, wütend, rasend und fassungslos. Ich erkenne, dass es nur ein kleiner Prozentteil der Menschen weltweit ist, der sich mit Trinkwasser und reichlich Wasserdruck mit der Brause duschen kann und nicht einen Eimer und Flusswasser benutzen muss. Ich erlebe Menschen, die viele Angehörige auf Grund von eigentlich längst heilbaren Krankheiten verloren haben. Täglich macht es mich traurig, wenn die Jungs nur wenige Minuten mit ihren Eltern, oder ihren Freund*innen telefonieren können, weil einfach das Geld nicht reicht. Um zu telefonieren, verzichten viele sogar auf Brot. Obst, das es eigentlich reichlich gibt, ist oft nicht finanzierbar. Das macht mich traurig. Eine andere Welt – Oft absolute Armut. Vieles bringt mich auch zum Lachen, Staunen, oder gibt mir ein total „beflügelt-freies Gefühl“. Viel glücklicher, als wenn ein 13-jähriger endlich lesen lernt und erste Erfolge erzielt, kann man eigentlich nicht sein. Und was macht einen fröhlicher, als wenn man nach dem Urlaub überschwänglich, selbst von den gleichaltrigen, empfangen wird? Neulich musste ich herzlich lachen, als ich (bei angenehmen 23°C) in das Klassenzimmer kam und manche Jungs im Bademantel, die meisten aber mindestens mit Jacke und aufgesetzter Kapuze dasaßen. Zum Staunen bringen mich die Menschen hier immer wieder. Ich habe noch nie mehr Lachen, mehr Freundlichkeit, mehr Hilfsbereitschaft und mehr Gelassenheit als hier erlebt. Trotz, dass die Menschen hier oft nur Reis essen und so viele mangelernährt sind, trotz dass die meisten keinen Strom und nur die wenigsten sauberes (geschweige denn Trink-)Wasser haben. Jeden Augenblick erlebe ich hier: eine andere Welt – Eine Welt voller Reichtum.

 

Abschließend ein paar Worte

Mir geht es sehr gut. Ich freue
mich schon mächtig auf die noch vor mir liegende Zeit. Das könnte auch daran liegen,
dass ich hier mehr Menschen an einem Tag sehe, als in Deutschland in einer ganzen
Woche. Menschen, die mich gernhaben und die mir bei meinem Dienst hier helfen.
Menschen, die mir „leben“ zeigen und die mir vormachen, wie man tanzend die Welt
„neu“ und „mit Gottes Augen“ sehen kann.
Danke, an alle die mir das ermöglichen.

Duékoué 15.01.2018
Martin Hohler