Ich öffne meine Augen, das Erste, was ich sehe, ist eine grüne Dschungellandschaft mit Palmen, Bäumen und einem Traktor. Ein Traktor auf dem Rollfeld? In diesem Moment realisiere ich, dass wir in Vijayawada gelandet sind! Mich überkommt ein Gefühl der Freude, Neugier und auch etwas Angst: Denn was wird wohl im kommenden Jahr alles passieren? Wie wird mir Indien und die Arbeit gefallen? Werde ich mich verändern und wenn ja, ist das nicht genau das Ziel dieser Reise? Sehr viele Gedanken und Emotionen gehen mir im Landeanflug durch den Kopf.

Als ich das Flugzeug verlasse, sagt die Flugbegleiterin zu mir, dass es in meinem übergroßen Pullover gleich sehr warm werden wird. Sie hat recht behalten: Mir schlägt sogleich eine Hitzewelle entgegen, und ich bekomme schwer Luft. Ach du Kacke, ist das heiß. Im Miniflughafen von Vijayawada halten Lele (meine Mitvolunteerin) und ich Ausschau, wo wir hin müssen, denn das wissen wir beide nicht so genau. Als wir zum Ausgang kommen, sehen wir schon ein kleines Schild mit der Aufschrift „Don Bosco“, das von zwei Männern gehalten wird.

Das eine muss doch der Vorvolo sein, denke ich mir; wir kennen nur ein Profibild von ihm. Meine Frage beantwortet sich gleich von selbst, denn er kommt auf uns zu. „Hey, ich bin Engjell!“ Er konnte wegen irgendwelcher Visaprobleme noch nicht ausreisen und sitzt seit drei bis vier Wochen fest. Doch in diesem Moment sind wir beide einfach erleichtert, dass er da ist und uns alles zeigen kann. Ich bin erstaunt darüber, wie gut er sich zurechtfindet und wie selbstbewusst er durch die Straßen geht. In den nächsten 48 Stunden versucht Engjell uns alles zu erzählen, was er in seinem Jahr in Indien gelernt hat. Über Verhaltenstipps, gute Essenspots, wo man keine Darmprobleme bekommt, und zum Volunteerleben in Vijayawada ist alles dabei. Als wir ihn am zweiten Abend verabschieden, sitzen wir zu zweit in der Flat und realisieren: Oh Gott, jetzt sind wir auf uns gestellt! Kein Welpenschutz mehr für uns. Diese Nacht schlafe ich sehr unruhig. Eigentlich wären wir jetzt zu fünft, doch außer Lele und mir sitzen die anderen drei Volos in Deutschland fest und warten auf ihr Visum.

Doch je mehr Tage vergehen, desto selbstsicherer gehe ich die Straßen entlang. Es ist immer noch ungewohnt, dass sich Menschen nach einem umdrehen und einen nach Bildern fragen. Ich kann mich hier als weiße Frau mit 1,80 m nicht verstecken – ich falle auf. Das kann zum einen beängstigend sein, da teilweise Männer Catcalling betreiben (passiert ja auch in DE) und ungefragt Fotos von einem machen. Zum anderen traue ich mich mehr, auf Menschen zuzugehen und beispielsweise am Gemüsestand die Preise zu verhandeln. Der Straßenverkehr ist ein gutes Beispiel dafür, wie Dinge in Indien funktionieren: Es gibt keine festen Regeln und Gesetze, aber irgendwie funktioniert es doch. Inzwischen fahre ich auch mit dem Fahrrad durch die City. Als Verkehrsteilnehmer ist Selbstbewusstsein sehr wichtig: Man geht zielstrebig über die Straße, und die Leute weichen schon aus.

Inzwischen arbeiten Lele und ich im Open Shelter. Dort ist die erste Anlaufstelle für Jungs von der Straße oder aus schwierigen Familienverhältnissen. Die anderen Projekte lernen wir erst noch kennen – wir wollten damit warten, bis mehr Volos da sind. Im Shelter geben wir Englisch- und ein bisschen Matheunterricht. Die Schwierigkeit hierbei ist das unterschiedliche Leistungsniveau der Jungs. Aufgrund des unterschiedlichen Alters und der verschiedenen Schulbildung ist es fast nicht möglich, einen Unterricht zu gestalten, der allen gerecht wird. Ein Junge ist schon 15 Jahre alt und möchte natürlich nicht Plusrechnen; deshalb versuchen wir, ihn individuell zu fördern. Obwohl diese Situation überfordernd ist, macht es mir Spaß, den Unterricht vorzubereiten, weil wir dort sehr großen Spielraum haben. Die Jungs sind mir auch schon sehr ans Herz gewachsen, und es freut mich, dass sie wirklich Lust haben zu lernen. Zudem ist es trotz kaum vorhandener sprachlicher Kommunikation sehr lustig mit ihnen. „Messi or Ronaldo?“ kennen wohl Kinder auf der ganzen Welt.

Jetzt bin ich seit zwei Wochen in Indien. Gefühlt habe ich schon so viel erlebt wie sonst in drei Monaten. Ich hoffe, man hat einen kleinen Einblick in meine Anfänge hier in Indien bekommen. Ansonsten bin ich sehr gespannt, was in den nächsten Monaten so passiert. Ich werde davon berichten. Zudem hoffe ich, dass wir bald vollständig sind und die anderen drei Volos aus Deutschland zu uns kommen. Wir freuen uns auf sie!

PS: Gerade ist ein Affe über unsere Terrasse gelaufen.