Es schüttelt mich immer wieder durch. Immer wieder spüre ich dumpfe Aufstöße. Meine Finger krallen sich an meinem Sitz fest. Ich blicke aus dem Fenster des Busses. Weite erstreckt sich vor mir, große Wiesen im Vordergrund der Berge. Es geht aufs Land, raus aus dem hektischen Verkehr von Tuk-Tuks, Autos und Menschen. Das Einzige, was man hier auf der Straße vorfindet, sind Kuhherden und Schlaglöcher.

Schon nach den ersten Kilometern außerhalb von Vijayawada hat sich etwas verändert. Man kann in die Ferne sehen, und ich bin wieder in der Natur – das erste Mal seit meiner Ankunft in Indien. Ich gebe zu, gerade kommt wohl das Landei in mir durch. Nach fast drei Monaten indischer Stadt ist die Natur eine echte Wohltat.

Warum geht es aufs Land?

Lele und ich sind auf dem Weg in ein weiteres Projekt unserer Organisation, namens Vimukti. Dabei handelt es sich um eine Einrichtung zur Behandlung von Jungen mit Substanzmissbrauch, überwiegend dem Missbrauch von Tabakwaren, Alkohol und Cannabis. Die Jungen sind zwischen 7 und 15 Jahre alt.

Doch warum haben so junge Kinder schon Drogenprobleme?

Wie bei vielen komplexen gesellschaftlichen Themen sind hier zahlreiche Faktoren verantwortlich:

  • mangelnde elterliche Aufsicht
  • familiäre Instabilität – Ehekonflikte, Scheidung, Alleinerziehung
  • niedriger sozioökonomischer Status, unregelmäßiges Einkommen
  • einfacher Zugang zu Substanzen zu Hause
  • mangelndes Bewusstsein über Gesundheitsrisiken

Ehrlich gesagt bin ich sehr aufgeregt, als wir aus dem Bus aussteigen, uns ein Tuk-Tuk rufen und dieses dann auf einen unasphaltierten Feldweg einbiegt. Ich habe keine Vorstellung, was mich dort in den nächsten Tagen erwarten wird.

Kurz zur Erklärung, was überhaupt im Vimukti passiert: Jedes Kind durchläuft zunächst eine medizinische und psychologische Untersuchung. Es folgt eine ärztlich überwachte Entgiftung. Anschließend finden Einzelberatungen, Verhaltenstherapien und Gruppengespräche statt, die den Jungen helfen, ihre Gefühle zu verstehen und Bewältigungsstrategien zu entwickeln, um neues Selbstvertrauen aufzubauen.

Als wir ankommen, rennen uns die ersten Kinder schon entgegen und nehmen uns in Empfang. Sogleich geben wir unsere Volleyballkünste zum Besten und gehen anschließend so früh wie schon lange nicht mehr ins Bett.

Im frühesten Morgengrauen klingelt unser Wecker, denn um 6 Uhr morgens startet der Tag für die Jungs – und somit auch für uns –, zuerst mit einer Sporteinheit. Als ich durch die kühle Morgenluft in Schlappen jogge, die laute indische Musik in meinem Kopf dröhnt und ich irgendwie versuche, einen halbwegs passablen Liegestütz hinzubekommen, bin ich in wirklich miserabler Stimmung. To be fair: Ich bin wohl kein Morgenmensch.

Nach dem Sport geht es aufs Feld, Unkraut jäten. Als ich auf der kalten Erde knie und mich darauf konzentriere, nicht die falschen Pflanzen auszureißen, merke ich, dass man richtig runterkommt – wie eine Art Meditation. Ich fange an, mich nicht mehr gegen das strikte Morgenprogramm zu sträuben, und lasse mich darauf ein.

Nach dem Frühstück versuchen Lele und ich, einen Weg zu finden, 15 Jungs mit komplett verschiedenen Lernlevels irgendwie gerecht zu werden. Eine Aufgabe, an der man eigentlich nur scheitern kann, da die Unterschiede fast zu groß erscheinen. Wir geben unser Bestes – im Wissen, nicht allen gerecht werden zu können. Eine schmerzhafte Feststellung, die einen oftmals an die Frustrationsgrenze bringt.

Nachdem der Unterricht geschafft ist und alle zu Mittag gegessen haben, steht ein zweistündiger Mittagsschlaf auf dem Programm. Als ich meine Augen wieder öffne, fühle ich mich, als wäre soeben ein Laster über meinen Kopf gefahren – aber es geht weiter: drei Stunden lang Volleyball spielen. Naja, Profi werde ich nicht mehr.

Die Kinder finden zudem einen Riesenspaß daran, von uns über die Wiese gejagt zu werden, und so finde ich mich völlig durchgeschwitzt beim Abendessen wieder. Danach duschen, umziehen und gemeinsam fernsehen. Im Gegensatz zu den Kindern habe ich eher wenig für das teilweise sehr – wie soll man sagen – bollywoodartige TV-Programm übrig. Ich lese dafür zum ersten Mal in Indien mein Buch weiter. Fast bis zum Ende.

Langsam verstehe ich das Konzept hinter all dem, denn nach den paar Tagen im Vimukti, auch ohne WLAN, fühle ich mich irgendwie gereinigt. Also: Wenn man an seinen schlechten Gewohnheiten arbeiten möchte, gibt es keinen besseren Ort. Es ist schwierig, die Worte dafür zu finden, aber ich bin mehr bei mir selbst.

Als es mich wieder durchschüttelt und teilweise mein Hosenboden den Ledersitz des Busses verlässt, weil einige Schlaglöcher so groß scheinen wie Obersöchering, befinde ich mich schon wieder auf der Fahrt zurück.

Alle Liebe

Marlene <3