Die letzte Woche war etwas aufwühlender als das, was ich zuvor in Indien erlebt habe. Wir hatten von unserer Organisation aus eine Orientierungswoche, damit wir die Lebensumstände der Kinder, mit denen wir arbeiten, kennenlernen und eine Vorstellung davon bekommen, was diese bedeuten.

Gleich am Montag haben wir die erste Slum Area besucht. Viel Leid, Armut und Hilflosigkeit. Wir wurden auch durch Wohnungen dort geführt – die Menschen sind sehr gastfreundlich. Obwohl sie selbst nicht mehr als das Nötigste haben, werden Gäste wie Könige behandelt. Viele Kinder gehen nicht zur Schule, sondern arbeiten auf irgendwelchen Plantagen, ebenso wie ihre Eltern. Hier ist noch ein anderer Umgang mit den Kindern üblich – oft wird ausgeholt oder gedroht.

Als die verschiedenen Szenen an meinem Auge vorbeilaufen, wird mir klarer, dass ich nichts tun kann, um die Situation zu ändern. Ich kann nicht den Umgang zwischen Eltern und Kindern ändern oder die Armut beenden. Also warum bin ich dann hier? Ich fühle mich nutzlos.

Das Skurrile an dem Geschehen ist, dass alle Fotos mit uns machen wollen. Warum, frage ich mich. Ich habe doch nichts gemacht, ich habe nicht die Situation dieser Menschen verbessert. Ich stehe hier nur dumm rum und schaue mir ihr Zuhause an, und dennoch sind die Menschen freundlich und wollen viel über uns wissen.

Als wir in ein weiteres Haus gehen, sehe ich eine Frau – oder ein Mädchen? Ich bin mir nicht ganz sicher, irgendetwas dazwischen. So wie ich. Sie hat ein Kind auf dem Arm, und unter ihrem lila Kleid wölbt sich ihr Bauch – sie ist schwanger. Sie ist wunderschön und hätte locker Model werden können. Ich frage sie nach ihrem Alter.

Sie ist 19.

Ich bin 19.

Mir wird plötzlich ganz kalt, und der Kloß in meinem Hals wird noch größer. Ich habe tausend Fragen in meinem Kopf. Ich wusste, dass in Indien Zwangsehen ein großes Thema sind und die Frauen den Männern immer noch unterliegen. Aber in diesem Moment werden diese ganzen Informationen zu einem Bild, einem Gesicht, einer Frau.

Damit man die Lage in Indien besser versteht, ein paar Fakten:

• Durchschnittliches Heiratsalter von Frauen – Indien: 22,9 Jahre; Deutschland: 32,6 Jahre

• Frauen mit weniger als fünf Schuljahren Bildung heiraten oft schon im Teenageralter

• 29,3 % der Frauen im Alter von 20–24 Jahren in Andhra Pradesh waren laut NFHS-5 schon vor ihrem 18. Geburtstag verheiratet.

• Auf Basis von NFHS-/IHDS-Befunden ist es plausibel, dass in Andhra Pradesh die Mehrzahl der Ehen weiterhin arrangiert ist (ca. 60–85 %); der genaue Anteil variiert stark nach Alter, Bildung, Urbanität und Distrikt.

• Durchschnittliches Alter von Frauen bei der Geburt des ersten Kindes: Deutschland (30,4 Jahre), Indien (ca. 21 Jahre).

Quelle: National Family Health Survey (NFHS); Statistisches Bundesamt

Als ich am Abend schlafen will, habe ich das Gesicht dieser Frau vor Augen. Eigentlich hätte ich das auch sein können. Wir sind gleich alt, leben auf dem gleichen Planeten und doch in ganz verschiedenen Welten. Während ich mir Gedanken darüber mache, in welcher Farbe ich mir als Nächstes die Haare färbe, macht sich ein Mädchen im gleichen Alter, nur ein paar Straßen weiter, Gedanken über den Namen ihres zweiten Kindes – und darüber, wie sie das Essen auf den Tisch bringt.

Das Einzige, was mich von ihr trennt, ist Schicksal – oder kann man es Glück nennen? Wir haben aus irgendeinem Grund das Privileg, an einem anderen Ort geboren zu sein. Wir sind nicht talentierter, schlauer oder weiterentwickelter. Wir hatten Glück. Ich hatte Glück. Warum? Diese Frage kann niemand beantworten.

Es muss uns nur bewusst sein, dass das Einzige, was uns von einer anderen Lebenslage trennt, Glück ist. Dies muss uns im Umgang mit allen Mitmenschen – vor allem mit den vermeintlich Schwächeren – immer bewusst sein.

Also, Leute, der Eintrag war jetzt ein Downer, aber es ist mir wichtig, über die Benachteiligung von Frauen in Indien zu schreiben und über ihre nicht vorhandene Selbstbestimmung im Verlauf ihres Lebens. In den letzten Jahren haben die Frauen zwar immer mehr an Autonomie gewonnen, was super ist – jedoch sind das meist Frauen aus Akademikerfamilien mit wirtschaftlich stabilem Hintergrund.

Insofern hoffe ich, dass wir uns immer mal wieder an unser Privileg erinnern.

Alles Liebe ❤️

Marlene