Maria in Ruanda

ein Jahr im Land der tausend Hügel

Leben auf der Straße – Kinder zwischen Hunger und Freiheit

Sie haben auch bei Regen und Kälte kein Dach über dem Kopf, verbringen fast den ganzen Tag auf der Straße oder auf dem Markt auf der Suche nach etwas zu essen, haben fast die ganze Zeit Hunger, schlafen in Straßengräben oder geschützten Ecken hinter Häusern, fangen sich regelmäßig Krankheiten wie Krätze und kleinere Verletzungen ein und müssen sehr früh selbstständig und „erwachsen“ werden. Das Leben der Straßenkinder ist wirklich nicht einfach – und trotzdem sind die meisten mit ihrer Situation mehr oder weniger zufrieden. Doch was bringt ein Kind dazu, das Elternhaus zu verlassen, und sich selbst den Unannehmlichkeiten des Straßenlebens auszusetzen?


Die Arbeit mit den Straßenkindern ist ein großer und wichtiger Teil meines Alltags hier. Auf dem Blog habe ich das Thema aber bisher weitestgehend ausgelassen. Einerseits weil es mir schwerfällt, darüber zu schreiben, andererseits weil Cili und ich am Anfang selbst noch sehr unsicher waren, und erst im Laufe der Monate einen guten Durchblick bekommen haben. Jetzt möchte ich mal einen etwas ausführlicheren Artikel darüber schreiben und meine Erfahrungen mit euch teilen.

Unter den Begriff „Straßenkinder“ fallen nicht nur diejenigen, die längerfristig auf der Straße leben. Viele Kinder kommen aus sehr armen Verhältnissen und können deshalb zuhause nicht genügend Essen, Kleidung etc. bekommen. Deshalb verbringen sie die meiste Zeit auf der Straße, um sich durch kleine Arbeiten und Betteln das Lebensnotwendige dazuzuverdienen. Andere Kinder haben sehr angespannte Verhältnisse zu ihren Eltern oder Verwandten und verbringen deshalb ab und zu einige Nächte auf der Straße, kommen aber meistens wieder zu ihren Familien zurück. Auch sie kann man als „Straßenkinder“ bezeichnen, deshalb ist die Definition nicht ganz eindeutig. 

Es gibt hier (zum Glück!) nur eine kleine Zahl an Kindern (weniger als 10), die dauerhaft auf der Straße leben und schlafen. Diese Anzahl schwankt aber. Die meisten dieser Kinder haben sich zu einer Gruppe zusammengeschlossen und verbringen viel Zeit zusammen.

Sie haben ihre Familien aus den verschiedensten Gründen verlassen, beispielsweise weil ein Elternteil gestorben ist und sie von Stiefmutter oder -vater nicht akzeptiert werden, oder weil sie vor häuslicher Gewalt fliehen. Meist spielt auch die Armut der Familien eine große Rolle. Größtenteils haben die Kinder aber noch Eltern oder Verwandte, die in der Nähe wohnen, sie bleiben trotzdem lieber auf der Straße. Dort können sie nach ihren eigenen Regeln leben und müssen sich nicht den familiären Strukturen unterordnen. Das Leben auf der Straße führt zwar dazu, dass die Kinder praktisch dauerhaft Hunger haben und nachts keinen Schutz vor Kälte oder Regen finden, aber es gibt den Kindern auch die Freiheit, immer genau das zu tun oder zu lassen, was sie wollen.

Das Ziel ist es eigentlich, alle Kinder wieder in ihre Familien einzugliedern, oder eben andere Familien zu finden, die Kinder bei sich aufnehmen. Die Priester können sich zwar mit den Familien unterhalten und versuchen, Konflikte zu lösen, aber man kann schließlich kein Kind zwingen, dauerhaft bei den Eltern zu bleiben. Die meisten Kinder haben sich schon so sehr an das Straßenleben gewöhnt, dass sie sich nicht mehr an ein Leben in einer Familie anpassen können. Außerdem kommen sie auf der Straße – trotz Hunger und Kälte – gut allein zurecht, haben ihre Freunde und Kontakte und somit keinen Grund, ihre Freiheiten für ein Dach über dem Kopf aufzugeben. Sie sind mit ihrer Situation weitestgehend zufrieden.

Aber wie sieht das Leben dieser Kinder in der Zukunft aus? Wie soll es weitergehen, wenn sie erstmal 20 oder 25 Jahre alt sind – immer noch obdachlos und ohne Geld oder Ausbildung? Diese Fragen bleiben ungeklärt, das Leben auf der Straße bietet keine Perspektiven.


Alle zwei Wochen sonntags organisieren Cili und ich eine Essensausgabe für alle „Straßenkinder“, also nicht nur für diejenigen, die dauerhaft auf der Straße
leben. Das wurde schon von unseren Vorgängerinnen vor zwei Jahren begonnen und wir haben es von Anfang an weitergeführt. Immer abwechselnd gibt es Reis mit Bohnen und Soße oder „Igikoma“, ein Brei, der aus verschiedenen Mehlsorten gekocht wird, mit Brot. Finanziert wird die Essensausgabe von Spendengeldern. Meistens gehen wir vorher mit einem der
Aspiranten (die beiden Priesteranwärter, die genau wie wir ein Jahr lang hier leben) auf den Markt, um das Essen einzukaufen. Essen für etwa 40 Kinder kostet umgerechnet ungefähr 10 Euro.

Beim Essen: Gerade gibt es Reis mit Bohnen

Damit die Kinder nicht nur zum Essen kommen, sondern auch davor und danach Zeit miteinander verbringen, organisieren wir immer gemeinsam mit den Aspiranten und manchmal auch mit einem der Priester ein Programm vor und nach dem Essen. Wir beginnen meistens damit, dass sich jeder, der möchte, waschen kann, und wir kleinere Wunden sowie Kinder mit Krätze versorgen und Löcher in der Kleidung nähen. Anschließend werden einige Spiele gespielt, die Aspiranten bringen den Kindern Lieder bei oder alle machen zusammen Sport (wer schafft die meisten Liegestützen?). Vorm Essen wird immer gebetet. Alle, die am Gebet teilgenommen haben, bekommen dann eine kleine Eintrittskarte für die Essensausgabe. Anschließend finden sich immer ein paar Freiwillige, die uns helfen, das Geschirr zu spülen und alles sauber zu hinterlassen. Wer möchte, kann außerdem noch Zähne putzen.

Beim Spülen nach dem Essen

Die Kinder freuen sich immer auf die Essensausgabe und fragen oft nach, wann es wieder Essen gibt. Doch auch wenn das Essen ihnen die Chance gibt, sich einen Tag lang keine Sorgen zu machen, wo sie als nächstes etwas Essbares finden, können wir ihnen damit leider nicht nachhaltig weiterhelfen. Wer am Sonntagnachmittag eine warme Mahlzeit bekommt, hat eben am Montagmorgen schon wieder Hunger. Gleichzeitig müssen wir darauf achten, nicht noch häufiger Essensausgaben zu machen. Denn je mehr Essen wir verteilen, desto mehr erleichtern wir den Kindern das Leben auf der Straße, und es wird für andere Kinder attraktiver, ebenfalls auf der Straße zu leben, was wir eigentlich verhindern wollen. Vor allem am Anfang wurden wir oft von Kindern angelogen, sie würden auf der Straße leben, obwohl sie eigentlich ein Zuhause haben. Bei manchen Kindern haben wir erst im Laufe der Zeit herausgefunden, ob sie wirklich auf der Straße leben oder nicht. Die Kinder meinen das nicht böse, sondern versprechen sich einfach mehr Vorteile davon, dass wir denken, sie leben auf der Straße. Gerade deshalb finde ich es wichtig, dass die Kinder sich alle gemeinsam als Gruppe begreifen und wir denjenigen, die dauerhaft auf der Straße leben, den anderen gegenüber keine Vorteile einräumen. Außerdem kann man nie wissen, wer wann zuletzt etwas gegessen hat. Manchmal hat ein Kind, das bei seiner Familie lebt, genauso viel Hunger wie ein anderes, das auf der Straße lebt. Deshalb schließen wir niemanden von der Essensausgabe aus.

gemeinsames Singen und Tanzen vorm Essen

Dieses Treffen mit den Kindern alle zwei Wochen dient hauptsächlich dazu, alle Straßenkinder regelmäßig zu sehen, und zu erfahren, was es Neues gibt. Vor und nach dem Essen können wir mit den Kindern ins Gespräch kommen und erfahren, wer vielleicht in seine Familie zurückgekehrt ist, wer regelmäßig zur Schule gegangen ist und wer nicht, oder ob jemand eine Verletzung hat oder Löcher in der Kleidung.

Ab und zu werden von der Gemeinde Kleidungsstücke oder Schuhe gespendet, die wir an die Kinder verteilen dürfen. Zum Glück haben wir inzwischen einen ungefähren Durchblick, wer zum Beispiel wirklich seit zwei Wochen kaputte Schuhe hat, oder wer seine Schuhe nur versteckt, um ein neues Paar zu bekommen, das er auf dem Markt verkaufen kann. Das Verteilen von Kleidung löst bei den anderen Kindern aber oft Eifersucht aus, deshalb versuchen wir, es möglichst subtil zu machen, und uns, wie eigentlich auch in allen anderen Punkten, gut mit den Priestern oder Aspiranten abzusprechen, sodass es nicht gleich alle mitbekommen.

Der Großteil der Kinder, die auf der Straße leben, hat leider aufgehört, zur Schule zu gehen. Ohne einen geregelten Tagesablauf und regelmäßige Mahlzeiten ist es schließlich beinahe unmöglich, jeden Tag mit den anderen Kindern zu lernen. Außerdem geben die Kinder ihr weniges Geld lieber für etwas zu Essen aus, als für Schulmaterialien wie Hefte und Stifte.

Vor einiger Zeit haben Cili und ich damit angefangen, regelmäßig mit den Kindern, die wir dazu motivieren können, außerhalb der Unterrichtszeiten zu lernen. Damit versuchen wir natürlich vor allem diejenigen zu erreichen, die nicht mehr zur Schule gehen, wir freuen uns aber auch über alle anderen motivierten Kinder. Weil das Niveau ganz unterschiedlich ist, verteilen wir individuell Aufgaben in Mathe, Englisch oder Kinyarwanda, oder wir üben mit den weniger Fortgeschrittenen erstmal, ihren Namen zu schreiben.

Hochkonzentriert!

Inzwischen haben wir herausgefunden, dass wir mehr Kinder zum Lernen bringen, wenn wir nach einer Stunde Produktivseins beispielsweise ein kurzes Englisch-Lernvideo zeigen, als Belohnung für die Konzentration.

Wir versuchen auch so gut wie möglich, als Ansprechpartnerinnen und Bezugspersonen für die Kinder da zu sein. Wir nehmen uns auch mal für Einzelne Zeit, sei es zum Lernen, zum Spielen, oder einfach zum Reden (- jetzt, seit es auch mit dem Kinyarwanda einigermaßen funktioniert). Für eine Weile die ungeteilte Aufmerksamkeit zu bekommen, tut vielen Kindern sichtbar gut.

Meiner Meinung nach ist es besonders gut und wichtig, dass die Kinder bei Don Bosco einen Ort haben, an dem sie immer willkommen sind, sich sicher fühlen können, und für einige Zeit ihre Sorgen vergessen. Besonders freue ich mich, wenn ich Straßenkinder in einer Gruppe mit anderen Kindern spielen sehe, wenn sie sich nicht distanzieren sondern integrieren und zusammen Zeit verbringen, ohne dass Wohnort oder sozialer Status eine Rolle spielen.


Mir ist bewusst, dass ich in dem einen Jahr, in dem ich hier arbeite, an der Gesamtsituation der Straßenkinder leider nichts verändern kann. Ein großer Nachteil des Freiwilligendienstes im Allgemeinen ist, dass ich schon im August wieder nach Deutschland zurückkehren werde – zusammen mit allem meinem Wissen über die Kinder und ihre Familien, mit allen Erfahrungen, die ich sammeln konnte und noch sammeln werde. Bis unsere Nachfolgerinnen sich eingefunden haben, wird es einige Monate dauern, und auch sie werden nach einem Jahr wieder abreisen. Auch die Aspiranten werden nach einem Jahr in eine andere Don-Bosco-Einrichtung umziehen. Dass die Kinder somit keinen dauerhaften Ansprechpartner oder Verantwortlichen haben, der sie viele Jahre lang begleitet und gut kennt, ist meiner Meinung nach ein Problem. Einen staatlich finanzierten Sozialarbeiter o.Äh., der sich um die Kinder kümmert, gibt es in Rango leider noch nicht. Wir versuchen deshalb, den Großteil unserer Arbeit mit den Priestern abzusprechen, da diese mehrere Jahre lang hier sind. Sie haben aber eigentlich andere Aufgaben wie die Leitung der Gemeinde oder des Ausbildungszentrums und somit immer viel zu tun und nicht unbegrenzt Zeit für die Straßenkinder.

Letztlich muss ich diese Situation aber akzeptieren wie sie ist und kann nur versuchen, die Zeit, die mir hier bleibt, sinnvoll zu nutzen. Wir können den Kindern kein sicheres Zuhause zaubern, das wollen die meisten von ihnen ja gar nicht. Aber wir können sie in den Schwierigkeiten, die das Straßenleben mit sich bringt, unterstützen. Wir können ein offenes Ohr für sie haben und für sie da sein. Außerdem steht die Tür zum Don-Bosco-Oratorium ihnen zu jeder Zeit offen, um für ein paar Stunden dem harten Alltag zu entkommen, um zu spielen und einfach mal Kind sein zu können.

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  1. Tigges

    Hallo nach Rango, liebe Maria,
    ich habe an vielen Stellen Gänsehaut bekommen. Das Projekt mit der Essensausgabe klingt so toll und ich bin sicher, dass es für die Straßenkinder etwas ganz besonderes ist und sie vielleicht auch darin und in euch Freiwilligen, die immer so viel Liebe schenken, ein bisschen „Familie“ wiederfinden.
    Ich denke an Euch & Grüße aus Togo.
    Sophie

    • Maria Gruber

      Muraho Sophie!
      Freut mich echt, dass du so oft meinen Blog liest. 🙂
      Ganz liebe Grüße zurück und hab ein schönes Zwischenseminar!

  2. Bettina Wopperer

    Hey Maria!
    Es ist sehr spannend zu hören, mit was ihr so zu kämpfen habt und wie vielseitig das Straßenkinderproblem tatsächlich ist.
    Liebe Grüße aus dem Kosovo,
    Bettina

  3. Theresa Fehrenbach

    Liebe Maria,
    so schön und inspirierend dich zu lesen!
    Schon jetzt freue ich mich darauf, mich mit dir auf dem Nachbereitungsseminar über genau solche Themen auszutauschen!
    Sonnige Grüße aus Santa Cruz,
    Theresa

    • Maria Gruber

      Buenos días Theresa!
      Ganz liebe Grüße zurück und ich freue mich schon drauf, dich in ein paar Monaten wiederzusehen :))
      Nachträglich frohe Ostern und eine schöne & spannende Zeit noch!

  4. Anna

    Liebe Maria,

    danke für deine reflektierten Bericht, dadurch konnte ich besser verstehen, wie schwierig es ist, die Situation der Kinder einzuschätzen, zu verstehen und „das Richtige zu tun“. Außerdem hat es mir persönlich nochmal aufgezeigt, wie vielschichtiger der Begriff „Straßenkind“ ist und dass ich auch ein falsches Bild hatte.
    Ich finde es toll, wie viel Gedanken ihr euch macht und wie viel Mühe ihr euch gebt und die Kinder unterstützt.. Ich wünsche ihnen, dass sie ein gute Zukunft haben können.
    Hoffentlich reden wir mal wieder miteinander, ich schicke dir eine Umarmung,
    Anna
    A

    • Maria Gruber

      Muraho Habibti, ich hab mich sehr über deinen Kommentar gefreut, auch wenn ich ihn erst jetzt gelesen habe! Danke und ganz liebe Grüße aus Rango 🙂

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