Weihnachten und Neujahr sind vorbei. Außer den Messen haben wir, die sonst großen Highlights nicht gefeiert. Das war aber auch nicht weiter schlimm, weil ich sowieso nicht in Stimmung war, so ganz ohne Kälte und Schnee. Hier war das absolute Urlaubswetter mit Sonne und Palmen.

Da wir immer noch Kommunikationsschwierigkeiten mit dem Pater haben, hatten wir keine großen Ansprüche an unsere Freizeitgestaltung. Es konnte nur noch besser werden. Dachte ich zumindest.

Öffne meine Ohren

Es gibt ja oft Lieder im Christentum, die besingen, dass Gott unsere Sinne, also Augen und Ohren öffnen soll, um unsere Umgebung und Mitmenschen aufmerksamer wahrzunehmen.

Mein Januar begann mit einem geschlossenen Ohr, welches sich langsam aber sicher entzündete. Am ersten Sonntag des Jahres versuchte ein Mann, der die Metapher wortwörtlich nahm, mit Gottes Hilfe mein Ohr zu heilen. Das klingt erstmal harmlos. Man denkt vielleicht an Gebete zu Gott, in denen man nach Hilfe fragt.

Na ja. Nicht ganz. Nach unserem Frühstück, saßen Adele und ich allein mit einem Mann im Essensraum. Dieser fing an über seine Erfahrungen und seinen Glauben an Gott zu philosophieren. Als er bemerkte, dass wir nicht an seiner Darstellung von Gottes Heilfähigkeiten interessiert waren, spannte er uns direkt in seinen Monolog mit ein. Er stellte uns konkrete Fragen, die eigentlich zu privat waren, um sie zu beantworten. „Gibt es Personen, denen ihr noch nicht vergeben habt? Wenn ja, dann ist dies eine Blockade zu Gottes Heilung. Nur wer dankbar für alles ist und jedem vergeben hat, ist fähig die Heilung Gottes zu erlangen.“

Während er weiter mit solchen Behauptungen und eigenen Interpretationen der Bibel um sich warf, wurde seine Mimik und Gestik immer emotionaler und aufgewühlter. Er versuchte uns mitzureißen und auf seine Seite zu ziehen, obwohl wir nie unsere Meinung äußerten. 

Nach einiger Zeit sollten wir unsere Augen schließen und ein Gebet, welches er sich gerade ausdachte, nachsprechen. Er forderte uns auf, selbst zu beten. Wir brabbelten irgendetwas vor uns her. Wir fingen an uns noch unwohler zu fühlen. Er stand auf und legte seine Hände auf unseren Kopf. Wir fühlten, wie wir die Kontrolle über uns selbst verloren. Er wiederholte Sätze auf Englisch, wie: „Ich lobe dich Herr!“ und „Dank sei dir, Christus!“ in einer manifestierenden und angsteinflößenden Art und Weise. Mein Herz schlug immer schneller. Ich wollte einfach nur raus, aber mein Körper regte sich nicht.

Der Mann rückte einen Stuhl im Raum zurecht und forderte mich auf, mich zu setzen. Mein Körper bewegte sich automatisch auf den Stuhl. Während Adele weiter beten sollten, steckte er mir seine Finger in die Ohren und sprach weiter und weiter zu Gott. Aber nicht nur zu Gott. Er befahl den bösen Geistern in mir, meinen Körper zu verlassen. Die Geister, die mein Ohr blockieren. Alle guten Geister sollten in mich einkehren. Ich wurde aufgefordert immer weiter Gott und Jesus zu danken. Für einen  Moment dachte ich, dass ich gleich Jesus begegnen werde. Meine Schockstarre und mein Kontrollverlust ließen diesen Gedanken kurz  zu. Meine Vernunft brachte mich „gottseidank“ wieder in die Realität.

Er fragte mich, ob es nun besser sei. „Nicht wirklich.“ Er beschuldigte mich, dass ich nicht genug gebetet habe und Gottes Heilung einfach nicht zulasse. Adele unterbrach ihn, indem sie sagte, dass wir endlich zum Bus müssen.

Als wir den Raum verließen, hatte ich noch nicht realisiert was da passiert ist. Wenn ich jetzt, nach zwei Wochen darauf schaue, erinnert es mich an Exorzismus-Prozesse aus Horrorfilmen oder dem Mittelalter. Wenn ich daran zurückdenke schlägt mein Herz immer noch schneller.

Noch nie konnte ich so gut nachvollziehen, wie Menschen in Sekten rutschen und nicht mehr herauskommen. Wenn man dreimal am Tag dieser Prozedur unterliegt, ist der Wahnsinn nicht mehr weit.