„Bin ich wirklich noch in Indien?“ Das war einer der ersten Gedanken, die ich hatte als Sara und ich in Guwahati im Nordosten Indiens landeten. Alles war plötzlich so anders, als ich es vom Süden gewohnt war. Ein sofort spürbarer Unterschied ist das Klima. Mir ist so kalt wie lange nicht und das obwohl ich Pullis und eine Jacke anhabe. Bei den warmen Temperaturen im Süden trage ich immer nur kurzärmlige Shirts. Außerdem ist alles ziemlich sauber, es liegt kaum Müll neben den Straßen. Die Menschen haben helle braune Haut. Die Gesichter sehen anders aus, die Menschen haben sehr asiatische Augen. Sogar das Essen unterscheidet sich vom Süden. Und natürlich wird auch eine andere Sprache gesprochen. Ist das tatsächlich Indien?

Wir waren dort auf einer Priesterweihe eingeladen und durften erneut die unglaubliche Gastfreundschaft der Inder erfahren. Außerdem ca. 1000 Fotos machen, da man als Weißer in diesem Land wirklich eine Attraktion ist. Das war irgendwann etwas anstrengend, aber wir hatten eine super Zeit, haben ein paar andere Deutsche getroffen und haben dann noch zwei unserer Mitvolontärinnen besucht, die in einem Mädelsinternat arbeiten. Einen Ausflug nach Cherrapunji, dem regenreichsten Ort der Welt, durften wir auch noch machen.

In den paar Tagen im Nordosten stellte ich fest, dass meine anfängliche Vermutung falsch war. Indien ist nicht nur der traditionelle Süden, den ich gewohnt bin. Es ist so viel mehr. Indien ist ein Land mit so vielen verschiedenen Seiten. Es war richtig schön, eine weitere Seite des Landes entdecken zu dürfen.

Dann ging es für 24 Stunden in den Zug. Ich muss sagen, dass das Zugfahren in Indien echt entspannt und cool ist. Jeder hat ein eigenes Bett und so kann man problemlos schlafen. Außerdem trifft man immer wieder nette Menschen. Uns wurde wieder einfach so von Fremden Essen geschenkt.

Wir sind an unserer Station angekommen. Varanasi. Die heilige Stadt der Hindus am Fluss Ganges. Ich war fasziniert. Was für eine verrückte, indische, wunderschöne Stadt. Wir schlendern viel durch die kleinen Gassen, mit den süßen Shops und indischen Essensbuden. Oft kommen uns freilaufende Kühe entgegen, versperren eine enge Gasse oder kommen von hinten angerannt und ich muss auf die Seite springen. An Kühen und Straßenhunden mangelt es hier definitiv nicht. Wir verbringen dort ein paar entspannte Tage und anstatt viel Sightseeing, geben wir uns dem indischen Treiben hin. Wir chillen am Fluss, essen lecker, shoppen ein bisschen, machen eine Bootsfahrt auf dem Fluss, schauen uns ein paar Tempel an und vor allem beobachten wir die vielen Menschen. Das Wasser des Ganges ist sehr verseucht, doch wir sehen viele Hindus darin baden, da das Wasser heilig für sie ist. Dieser starke Glaube, diese Religion ist so interessant. Sie beten, manche trinken das Wasser des Flusses sogar. An einer anderen Stelle sehen wir, wie Leichen im Fluss gebadet werden, danach verbrannt und die Asche in den Fluss geworfen wird. Im hinduistischen Glauben ist die Verbrennung am Ganges ein Ausweg der ewigen Widergeburt.

Uns werden ca. 100 Bootstouren angeboten. Viele Frauen mit kleinen Babys auf dem Arm oder Kinder kommen zu uns und betteln. Viele Menschen in der Stadt leben vom Tourismus. Wir sitzen auf der Dachterasse unseres Hotels, schauen über die runtergekommenen Häuser der Stadt. Wir genießen, entspannen, schauen, lernen und philosophieren über das Leben und den Sinn.

An einem Abend schauen wir den Film „Lion“. Er handelt von einem kleinen indischen Junge, der verloren geht, dann von einer australischen Familie adoptiert wird und nach langer Suche wieder sein zu Hause in Indien findet. Er basiert auf einer wahren Geschichte. Ich habe den Film vor ein paar Jahren im Kino gesehen, doch jetzt wo ich wirklich in Indien bin, nehme ich den Film nochmal ganz anders wahr. Ich beobachte am nächsten Tag die herumlaufenden Kinder. Viele haben zerzauste Haare, tragen löchrige Kleidung und sind schmutzig. Durch was sie wohl gehen müssen? Was sie tagtäglich erleben müssen? Wie viel sie täglich zu Essen bekommen? Ich kann es mir nicht vorstellen. Auch im Zug kamen zwei Jugendliche am Boden angekrochen, kehren und hoffen dafür ein paar Rupien zu bekommen. Das Bild geht nicht mehr aus meinem Kopf. Und wieder einmal nehme ich wahr, wie sehr man in sein Schicksal hineingeboren wird. Wird man auf der Straße geboren, hat keine Chance auf Bildung, wird zum betteln erzogen.. Wie soll man da rauskommen? Wie kann man sein Schicksal ändern? Oh, was für ein Glück wir eigentlich haben, in einem reichen Land wie Deutschland geboren worden zu sein und so viele Möglichkeiten zu haben.

Und so gingen zwei wunderschöne, lehrreiche, faszinierende, gedankenanregende Wochen zu Ende… Zurück im Projekt wurden wir lieb von unseren Jungs empfangen und bei den mittlerweile steigenden Temperaturen im Süden (um die 30 Grad) ist mir auch wirklich nicht mehr kalt.

So schicke ich Sonnenstrahlen ins verschneite Deutschland!