Wie war das Jahr rückblickend für mich, wie habe ich es erlebt und empfunden ..

Ich denke alle Leute, die ein Jahr von zu Hause weg gelebt haben, kennen diese eine spezielle Frage: „Und? Wie war dein Jahr?“ Wie soll man denn auf so eine Frage antworten? Wie soll ich ein ganzes Jahr in eine kurze und bündige Antwort stecken? Wie soll ich ein abschließendes Fazit, einen einzigen Satz, ein einziges Wort finden, welches das ganze Jahr beschreibt? Es ist unmöglich. Das Jahr steckte voll von Höhen und Tiefe, von Tränen und Lachern, von Ärger und Freude. Schon allein einen einzigen Tag des vergangenen Jahres in Worte zu fassen ist eine Herausforderung. Alle fünf Minuten ist etwas anderes passiert. In der einen Minute noch wurde man von einem Kind beschimpft mit den schlimmsten Schimpfwörtern, kurz darauf kommt ein anderes und sagt dir, dass es auf gar keinen Fall will, dass man zurück nach Deutschland geht und notfalls versteckt es sich dann in dem Koffer, um niemals getrennt von einem zu sein und kurz darauf muss man ein anders Kind in die Schranken weisen, weil mal wieder die sozialen Umgangsformen  im modern-minimalistischen Stil eingesetzt wurden. Da weiß man gar nicht wie man sich fühlen soll. War der Tag jetzt eher mies oder doch wunderschön? Man kann es einfach nicht zusammenfassend in Worte formulieren. Es war ein Auf und Ab auf einer Gefühlsachterbahn, schlimmer und zugleich schöner als die wilde Maus. Es war einfach eine Erfahrung, jenseits der Pole negativ und positiv, eine Erfahrung, die unbeschreiblich ist, die ich mit niemand anderem außer meinen Mitvolontären teilen kann, weil ich unfähig bin das Erlebte, all die Momente, all die besonderen Personen mit ihren (mehr oder weniger stark ausgeprägten) Macken in Worten zu beschreiben. Es würde niemals dem Gesamten, den einzelnen Charakteren unter den Kindern auch nur im Ansatz gerecht werden.

Personen, die mir nahestehen, die mein Gefühlschaos während dem Jahr mitbekommen haben, kommen daraufhin  oftmals mit der Frage: „ Du hast so viel erlebt und durchgemacht, wie kannst du überhaupt sagen, dass du das Jahr nicht bereust?“  NEIN! Ich bereue dieses Jahr in keinster Weise, würde das Jahr, das Erlebte gegen nichts auf der Welt tauschen wollen. Es war für mich, trotz aller Holprigkeiten, ein wundervolles, ein absolut erfülltes Jahr. All die Jungs, all die Kinder und Persönlichkeiten, die ich dadurch kennengelernt habe, mit denen ich dieses eine Jahr gearbeitet und erlebt habe, ich müsste verrückt und antisozial sein, wenn ich dieses wundervolle Geschenk gegen irgendetwas, sei es noch so perfekt und kostbar, eintauschen wollen würde. Und was die Schwierigkeiten des vergangenen Jahres angehen, im Moment und Augenblick kamen sie mir vielleicht sehr negativ behaftet, teilweise furchtbar vor, doch rückblickend sehe ich sie als Erfahrungen, die mich bereichert haben, an. Sie gehören einfach zu dem Jahr dazu, genauso wie all die schönen und positiven Momente. Ohne all das hätte ich vielleicht nie so viel gelernt, so viel erfahren und mitgenommen. Ich bereue sie nicht und werde sie nie bereuen.

Viele haben die Vorstellung, dass man als Volontär, als Freiwilliger die Welt verändert, dass man da hingeht, ein paar Gespräche mit den Verantwortlichen über die vorliegenden Probleme führt und -zackbum- plötzlich herrscht eine gerechtere, schönere Welt. Deshalb kommt oft folgende Frage: „Und denkst du, dass du etwas dort bewirken, etwas verändern konntest?“  Ja, eine kniffelige Frage. „Es ist nicht so wie du es dir vorstellst, weißt du. Es ist anders.“  Volontäre  können keine gerechtere Welt herzaubern. Volontäre sind nur kleine Menschen in einer schrecklich großen Welt, mit schrecklich viel Ungerechtigkeit. Während dem Jahr hab ich dann selbst angefangen, an dem Volontariat zu zweifeln, an mir zu zweifeln. Wie viel tauge ich eigentlich als Volontärin? Bringt`s das alles überhaupt? Kann ich damit überhaupt irgendetwas bewirken, irgendetwas verbessern? Und dann gab es so oft Momente, die mich alle Zweifel vergessen haben lassen. Es waren kleine Momente, in denen man gesehen hat, um was es in einem Volontariat wirklich geht: Nicht um die Ungerechtigkeit in der ganzen Welt zu besiegen, oder halt nur in Bolivien, nein darum geht es nicht, es geht darum die Ungerechtigkeit von einer großen Welt eines kleinen Menschen fernzuhalten und sei es nur für einen winzigen Moment. Es geht darum, den Kindern und Jugendlichen zu begegnen, sie zu berühren, hinter ihnen zu stehen, sowohl in den schönen, als auch in den schweren Momenten, ihnen zu zeigen, dass es Menschen gibt, die sich für einen interessieren und die einen unterstützen, die sie nicht verurteilen nur weil sie „anders“ sind, die nicht abfällig und abwertend auf sie schauen, nur weil sie Heimkinder sind und nicht die feinsten Manieren und Ausdrucksweisen haben, die sie genauso annehmen, akzeptieren und wertschätzen wie sie sind. Und ja, ich habe auch sehr oft daran gezweifelt, dass ich selbst das überhaupt geschafft habe, dass ich die Kinder berührt habe oder ob ich ihnen eigentlich nur egal war. Doch das Gegenteil, dass man etwas erreicht hat, dass man eine kleine große Welt ein wenig erhellt und ein wenig verbessert hat, macht sich so oft in den kleinsten, scheinbar unbedeutenden Momenten bemerkbar. Wenn man ewig kämpfen musste, dass die Kinder ihre Zähne putzen, sie an Händen und Füßen ins Badezimmer schleifen musste, man selbst deswegen viel einstecken musste, Schläge, Beschimpfungen abbekam, und dann plötzlich ein kleiner Junge, Gesicht zahnpastaverschmiert, mit großem Grinsen ankommt und dir stolz erklärt, dass er jetzt ganz vorbildlich freiwillig die Zähne putzt, weil er ja gelernt hat, dass Karies böse ist und man mit Karieszähnen nichts mehr essen kann und er isst doch so gerne.

Wenn man längere Zeit nicht im Heim war, ein Junge ganz stürmisch auf einen angerannt kommt und mit all seiner Kraft umarmt, einen gar nicht mehr loslassen will und murmelt, dass er dich so vermisst hat, dass man nie wieder gehen soll, dass irgendetwas fehlt, wenn du nicht im Heim bist, dass es nicht mehr so witzig ist, geh einfach nie wieder..

Ich möchte noch ein weiteres Beispiel dafür nennen, dass man bei Kindern einzeln etwas bewirken konnte, es ist mein Lieblingsbeispiel. Ich habe gerne mit den Kindern über tiefgründige, sensiblere Themen gesprochen, über ihre Zukunft, ihre Wünsche und Träume. Ich selbst bin ein Träumer, ich glaube fest an die Kraft von Träumen, dass starke, richtige Träume alle Kräfte eines Menschen entfesseln können, allen Ehrgeiz sich für die Verwirklichung dieser Träume einzusetzen und dafür zu kämpfen und dass man durch hartes Kämpfen alle Träume erfüllen kann, dass nichts unmöglich ist. Träume geben einem ein  Ziel, eine Hoffnung, ein Wunsch, für was es sich lohnt zu kämpfen. Und für mich gibt es nichts Traurigeres zu hören als: „Ich habe keine Träume, ich hab keine Zukunft. Ich komm von der Straße. Meine Zukunft sind Klefa, die Straße und keine Arbeit. Träume sind hoffnungslos, bringen doch eh nichts.“, „Mein Vater war Alkoholiker und Schläger. Er hat meine Mutter geschlagen, er hat mich geschlagen. Ich werde genauso wie er, da kann ich nichts dran ändern, auch wenn ich nie in meinem Leben so sein will. Das ist meine Zukunft.“  In den Gesprächen haben wir über alles gesprochen, ich habe versucht rauszufinden was sie mögen, was ihnen gefällt, was ihre Stärken sind, habe ihnen Bilder von allen möglichen Dingen gezeigt, vom Meer, vom Strand, von den verschiedensten Tieren, von Zeichnungen, Videos von Tänzen.. Ich weiß, dass es bei vielen einfach ins eine Ohr hinein und zum anderen wieder hinausgegangen ist, aber dann gab es noch den anderen Teil, der der mir zugehört hat. Den ich damit zumindest für einen Moment, vielleicht auch für einen größeren Moment, berühren konnte. Den anderen Teil, der plötzlich ankam und sagte: „Eh du, kannst du mir bitte nochmal diese Tiere zeigen, die es im Meer gibt? Wenn ich groß bin, will ich die mal in echt sehen, dann will ich am Meer wohnen in einer großen Villa. Wo gibt es überall Meer?“, „Weißt du wie man Ballett tanzt? Ich will das können so wie die Frauen in dem Video, das sieht so wunderhübsch aus. Die Kleider sind so schön. Kannst du mir das bitte beibringen.“ , „Ich habe ein Comic für dich gezeichnet. Und ich verspreche, dass ich damit weiter mache und wenn ich älter bin werde ich Comicautor.“

Wie viel davon wirklich bleibt, ob davon auch nur irgendetwas umgesetzt wird, sei mal dahingestellt. Aber sie haben zumindest für diesen Augenblick einen Traum, ein Ziel in ihrem Leben, etwas, für das es sich lohnt zu kämpfen, eine Hoffnung. Und das sind diese kleinen Momentchen, die einem beweisen, dass alles tatsächlich etwas bringt. Für jedes einzelne Kind, jeden einzelnen Menschen, den jeder Volontär mit seiner ganz eigenen Art und Weise berührt und eine kleine Spur auf dem Herzen und der Seele hinterlässt. Es ist eine kleine Spur in einer großen Welt einer kleinen Person. Und für mich kommt es genau darauf bei einem Volontariat an.

Nun abschließend, ob ich ein Volontariat weiter empfehle. Ja, auf jeden Fall. Macht es! All diese Menschen, die somit in euer Leben getreten sind und auch auf ihre ganz eigene Art und Weise eine Spur auf eurem Herzen hinterlassen haben, wollt ihr nicht missen. Es könnte unter Umständen ein hartes Jahr werden, aber im Grunde ist es auch nur ein Jahr. Ihr habt so viele Lebensjahre, sagen wir mal grob geschätzt 75 Lebensjahre, ob da jetzt mal ein Jahr etwas härter ist, spielt dann doch auch keine Rolle mehr. Und glaubt mir, man vermisst wirklich alles, jedes einzelne Kind,den Gestank der Straßen, jeden einzelnen Konflikt, den ganzen Krach und jedes einzelne Abendessen, das auf meinen Klamotten gelandet ist. Klar, das ist die rosarote Rückblickbrille, aber was ich damit sagen will, am Ende ist doch nicht alles so schlimm, wie es im Moment war und man würde alles genauso am liebsten noch einmal durchleben 😉 Es war einfach ein Jahr voller kostbarer Momente und Personen, die bei mir ein kleines, verträumtes Lächeln auf den Lippen auslösen, wenn ich zurück an Bolivien denke..

 „EN LA VIDA EXISTEN MOMENTOS INCOMPARABLES, COSAS INEXPLICABLES Y PERSONAS INOLVIDABLES“

(Im Leben gibt es unvergleichliche Momente, unbeschreibliche Dinge und unvergessliche Menschen)