Hier im Care Home leben viele Kinder und Jugendliche, die in ihrem erst kurzen Leben oft schon viel durchgemacht haben. Um euch, liebe Leser, an den Schicksalen der Jungs teilhaben zu lassen, haben Anna und ich uns überlegt, einige ihrer Geschichten auf unserem Blog zu veröffentlichen. Heute beginne ich mit der Geschichte des ersten Jungen; in den nächsten Tagen und Wochen werden noch Weitere folgen.

Dieser Blogeintrag ist ein großes Anliegen von mir und ich bin sehr froh, dass wir die Gelegeinheit hatte, ihn (mit Hilfe eines Brothers, der für uns übersetzt hat) zu erstellen. Nicht nur um euch einen Einblick zu geben und euch näher zu bringen, mit wem ich hier arbeite, sondern auch, da ich so die Gelegenheit hatte, einige der Jungs besser kennenzulernen und nun ihre Probleme, Sorgen und Ängste eher nachvollziehen kann.

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Ich wurde am 10.06.1995 in einem kleinen Dorf in Tamil Nadu geboren. Wegen einer Auseinandersetzung zwischen den Kasten2 in diesem Dorf, wurde ich diskriminiert. Ich komme aus einer niedrigen Kaste. Damals war ich drei Jahre alt, also erinnere ich mich nicht mehr an viel. Wir sind dann nach Ravalipaliam1 gezogen. Dort habe ich meine Mutter verloren, sie starb an Tuberkulose3. So wirklich kann ich mich nicht mehr an sie erinnern.

Mein Vater hatte nur eine Hand. Seine zweite hat er verloren, als er an einer Maschine arbeitete. Daher konnte er sich nicht um mich kümmern. Mit acht Jahren kam ich in das erste Hostel. In den ganzen sechs Monaten, die ich dort verbachte, hat er mich kein einziges Mal besucht. Natürlich wollte ich meinen Vater sehen, also bin ich aus dem Hostel abgehauen. Als ich wieder Zuhause ankam, musste ich feststellen, dass mein Vater bettlägerig war. Das war das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe. Als ich 13 war, starb er dann an Tuberkulose.

Ins Hostel konnte ich nicht mehr zurückkehren, da ich weggelaufen war. Nun war ich Vollwaise, also kam ich mit meinem Bruder ins zweite Hostel. Er war und ist der Einzige, der immer für mich da war. Er ist nicht wie mein Bruder für mich, wir sind eher beste Freunde. Das Hostel, in das wir kamen, war ein staatlich Geführtes; es gab keinen Tagesablauf, keine Regeln und Verpflichtungen, keine Beziehungen und Fürsorge. Ich mochte es trotzdem, oder vielleicht auch gerade deswegen, weil ich so viele Freiheiten hatte. Hier bin ich geblieben, bis ich mit der 12. Klasse fertig war.

Bis zu diesem Zeitpunkt wusste ich nicht, dass ich positiv bin. Ich hatte oft Kopfweh, Fieber und andere gesundheitliche Probleme, so haben sie es herausgefunden. Die Ärzte diagnostizierten HIV und Tuberkulose. Das war der schlimmste Moment meines Lebens!
Da ich in dieser Zeit oft krank war und in der Schule gefehlt habe, musste ich eine Prüfung wiederholen. Zum Glück habe ich sie dann aber doch noch bestanden.

Bevor ich mich im College einschreiben konnte, arbeitete ich für einige Zeit in einer Kantine. Später habe ich dann vom Don Bosco Care Home, welches speziell für HIV infizierte Jungs ist, gehört. Nun bin ich seit drei Jahren hier und studiere Wirtschaft. Ich mag das Care Home, aber ich habe oft das Gefühl, dass meine Gedanken und Wünsche zu kurz kommen. Ich hätte gerne mehr Freizeit, ein Handy und Internet. Hier habe ich eine Menge Regeln und Verpflichtungen. Zu Hause dagegen fühle ich mich frei und kann machen, was ich will. Außerdem gibt es hier momentan niemanden, mit dem ich wirklich offen reden kann. Wenn ich Probleme hab, rede ich mit meinen zwei besten Freunden. Der eine studiert mit mir, der andere hat das Care Home vor neun Monaten verlassen.

Vor drei Jahren (als ich ins Care Home kam), wurde ich das erste Mal in meinem Leben von meinem Bruder getrennt. Bis zur 12. Klasse waren wir immer in derselben Schule und im selben Hostel. Mein Bruder ist negativ, aber das stand nie zwischen uns. Ich habe einen weiteren Bruder und zwei Schwestern, von denen niemand infiziert ist. Meine Geschwister waren die einzigen, die mir in den schweren Zeiten sehr geholfen haben und auch die Einzigen, die von meiner Krankheit wissen. Aus meinem Umfeld, egal ob Freunde oder Verwandte, habe ich es niemandem erzählt.

Das letzte Jahr war die glücklichste Zeit meines Lebens. Ich war in ein Mädchen verliebt und allein der Gedanke an sie machte mich glücklich. Wir lernten uns im College kennen und verliebten uns ineinander. Wir telefonierten heimlich und unterhielten uns im College. Alles wäre perfekt gewesen und die Tatsache, dass auch sie positiv ist, gab mir Hoffnung. Doch es gab einige Probleme, die eine Beziehung verhinderten. Sie stammt aus einer höheren Kaste und ihre Familie hat sehr viel Geld. Da ich einer niedrigen angehöre, haben ihre Eltern es nicht erlaubt. Letztendlich wurde sie gezwungen, ihren Onkel zu heiraten und so endete unsere Beziehung.

Ich habe jedoch eine große Leidenschaft, die mich meine Probleme kurzzeitig vergessen lässt: das Tanzen! Wenn ich tanze, fühl ich mich frei und ich liebe das Adrenalin, wenn ich auf der Bühne steh, besonders wenn Mädchen zuschauen. Ich startete im zweiten Hostel. Immer, wenn die älteren Jungs Tanzvideos angeschaut haben, habe ich mich dazugesellt und versucht, es nach zu machen. Ich wurde immer besser und mittlerweile bin ich der Dance Master im Care Home. Hier fühl ich mich gut, weil ich weiß, dass ich der Boss bin. Außerhalb gibt es aber viele Jungs, die viel besser sind als ich, aber ich lerne immer dazu und versuche, besser zu werden.

Mein größter Wunsch für die Zukunft ist es, Geld zu verdienen, ein Haus zu Bauen und glücklich zu sein!!

Meine Nachricht an die Welt: „Nimm das Leben so, wie es kommt!“

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1 Der Name wurde aus Datenschutzgründen geändert.

2 Das Kastensystem unterteilt die Gesellschaft in mehrere Gruppen, denen man von Geburt an angehört. Je nachdem welcher Gruppe man zugehört, hat man ein unterschiedlich hohes Ansehen. Die Kaste kann nicht geändert werden und auch Beziehungen zwischen den einzelnen Kasten sind schwierig bzw. nicht möglich. Oft kommt es zu Diskriminierung der niedriger gestellten Kasten. Eigentlich ist das System durch die Regierung verboten, doch es sitzt immer noch fest verankert in den Köpfen der meisten Inder und hat einen hohen Stellenwert im alltäglichen Leben.

3 Die meisten HIV infizierten Menschen sterben an dieser Krankheit, welche hauptsächlich die Lunge, im weiteren Verlauf jedoch auch andere Organe nachhaltig beeinträchtigt.