Hendrik entdeckt Indien

Mein Freiwilligendienst in Keela Eral

Halbzeit Q&A

Um das vergangene halbe Jahr nochmal Revue passieren zu lassen, die gesammelten Erfahrungen zu teilen, aber auch über Schwierigkeiten zu reden und sich auszutauschen, trafen sich die Don Bosco volunteers aus Indien letzte Woche zum gemeinsamen Zwischenseminar in Hyderabad. Dabei wurden viele Fragen gestellt und beantwortet. Deshalb möchte auch ich die ein oder Antwort auf Fragen geben, welche sich für mich selbst gestellt haben.

Gab es Anpassungsschwierigkeiten?

Vor allem die Anfangszeit, in dem mir völlig fremden Land, war sehr intensiv und täglich voller interessanter Eindrücke. Natürlich gab es aber auch zahlreiche Momente, in welchen ich nicht begreifen konnte, was ich da eigentlich gerade sehe. Kann einem Menschen wirklich so sehr das Gefühl, vielmehr das Wissen fehlen, dass Plastikmüll nicht einfach in die Natur geworfen werden sollte? Wollen die Angestellten auf der Polizeistation uns ärgern oder weshalb arbeiten die hier in einem solchen Schneckentempo? UND WIESO WIRD DIE MUSIK BIS ZUM ANSCHLAG AUFGEDREHT, SODASS ES DIE LAUTSPRECHER JEDEN MOMENT ZU ZERREISSEN DROHT? Fragen über Fragen.

Und als wir vor Kurzem von einem Father gefragt wurden, was uns besonders vor Anpassungsschwierigkeiten gestellt hat, ist mir nichts anderes eingefallen als zu sagen: „Man kann hier das Hahnenwasser nicht trinken.“ Also wie man sieht: Ich habe mich sehr gut eingelebt und mich den Gegebenheiten angepasst. Ich konnte meine Ansprüche sehr bald nach der Ankunft zurückschrauben, was das Einleben unglaublich einfach gemacht hat. Daran hat aber auch das allgemeine Umfeld hier einen sehr großen Anteil. Die Gemeinschaft der Salesianer, die Hostel Boys und ganz besonders die Kinder in Bommaya Puram und Keela Eral haben uns sehr gut aufgenommen. Natürlich erfährt man eine Art „Sonderbehandlung“, diese schmälerte aber in keinster Weise das Gefühl dazuzugehören. Dafür bin ich unglaublich dankbar.

Wie läuft die Arbeit?

Da wir ohne große Vorgaben oder Materialien – eine Mappe mit einigen Bildern und den entsprchenden englischen Wörtern und Liedtexten haben uns die Vorgänger überlassen – in die Grundschule nach Bommaya Puram geschickt wurden, war viel Platz für unsere eigenen Ideen da. So entstanden über die letzten Monate Wort-Bild-Memory Spiele, eine selbsgebastelte Uhr, neue Begriffe, Spiele und Lieder. Inzwischen haben wir schon eine gut funktionierende Routine in unseren Unterricht gebracht. Die Kinder sind, zumindest die meiste Zeit, mit Eifer und Spaß bei der Sache. Sie lassen sich auf neue Ideen ein und freuen sich noch wie beim ersten Mal, wenn wir sie unterrichten dürfen.

Nach wie vor gehen wir auch jeden Abend in die Tuition Center in Keela Eral, sozusagen unserem Heimatort, um den Mädchen und Jungs bei den Hausaufgaben zu helfen. Was dort mit die größte Aufgabe war: die Namen der Kinder lernen. Es sind nicht nur viele Namen die man den Gesichtern zuordnen muss. Sondern auch Namen, welche man noch nie zuvor gehört hat. Ponkaruppusamy, Nithinananth, Alladu Lakshmi… Dazu kommen noch die 60 Hostel Boys und ebenso viele Grundschulkinder. Da kommt man doch schon gerne mal durcheinander und muss immer mal wieder nachfragen. Nachdem wir die zwei Stunden in den beiden Tuition Centers getrennt verbracht haben, folgt auf dem Heimweg oft der Austausch über quängelnde Kinder, Fehler in Schulbüchern und ein allgemeinses Kopfzerbrechen über das indische Bildungssystem. Dazu gibt es nämlich allerhand Gründe. Einen Moment, was sagte ich, sorgte für die größte Anpassungsschwierigkeit? Leitungswasser? Wohl eher wie in Indien gelehrt und gelernt wird.

Was genau ist da das Problem?

Die Schulaufgaben, welche in den Tuition Centers erledigt werden beschränken sich eigentlich auf abschreiben und auswendig lernen. Gerade in Englisch ist das sehr problematisch. Die Kinder lernen nicht Lesen. Das Wort ist eine Art Bild für die Kinder. Sie wissen einfach nur, was bei dieser Abfolge von Buchstaben gesagt werden muss. Es entsteht bei vielen Kindern kein Wissen, wie ein Wort tatsächlich gelesen wird. Somit muss jedes neue Wort müßam eingeprägt und auswendig gelernt werden. Durchaus haben ein paar Kinder ein Verständnis oder Gespühr dafür, wie ein neues Wort gelesen wird, indem sie es mit bereits gelernten Wörtern vergleichen oder sie als Bestandteil des neuen Wortes wiedererkennen. Beispielsweise können so gut wie alle unserer Grundschüler das Wort „apple“ „lesen“. Dagegen können sehr viele das Wort „pineapple“ nicht entziffern, obwohl sie wissen, dass es eine Frucht gibt, die so heißt. Es herrscht für sie schlichtweg keine Verbindung zwischen dem gesprochenen und geschriebenen Wort. Das zieht sich bis in die hohen Klassenstufen durch. Schüler, denen ein solches Verständnis fehlt hinken meilenweit hinterher. Und da es in der Schule nicht gefördert wird, entstehen enorme Leistungsdifferenzen.

Im Allgemeinen wird ein großer Fokus auf Auswendiglernen gelegt. Zu einem Text, welcher gelesen wurde, werden im Buch Fragen gestellt. Aber anstatt die Kinder die Fragen selbst beantworten, werden die Lösungen schon abgedruckt im Buch vorgegeben. Es werden stur die Antworten, in der Reihenfolge wie sie im Buch stehen, auswendig gelernt. Wenn ich die Kinder anschließend abfrage, könnte ich bei den meisten Schülern jede beliebige Frage stellen. Sie würden mir letztlich einfach nur die Antworten in der gelernten Reihenfolge aufsagen.

So entsteht letztlich ein gewaltiger Unterschied zwichen lesen und sprechen. Während Schüler schon im Grundschulalter komplizierte Texte lesen können, wissen sie auf die einfachsten Fragen, welche man ihnen stellt keine Antwort. Genau aus diesem Grund macht unser Unterricht sehr viel Sinn. Da die Kinder bei uns die Verbindung zwischen einer gestellten Frage und der Antwort lernen. Da sie ein Wort lernen und auch vertstehen was es überhaupt bedeutet. Da sie selbst nachdenken müssen um eine korrekte Antwort zu geben.

Dementsprechend ist das Erfolgserlebnis bei uns und den Kindern immer sehr schön. Weil diese auch selbst merken, dass sie was wirklich verstanden haben.

Welche persönliche Veränderung hast du bisher durchgemacht?

Ich vermute, dass ich erst in Deutschland so richtig merken werde, inwiefern mich dieses Jahr geprägt hat. Jetzt schon merke ich aber, wie ich offener geworden bin und auch mehr aus mir selbst rauskommen kann. Oft hatte ich Probleme damit, einfach zu machen, ohne im Hinterkopf zu haben, was denn andere nun von mir denken könnten. Ich habe mich zu sehr davon lähmen lassen, wie andere über meine Handlungen urteilen könnten. In Indien wurde mir das weniger wichtig. Hier kann ich mich einfach mal drauflostanzen, mich zum Affen machen und die Leute zum Lachen bringen. Auch wenn es immer Reaktion geben kann: „Was ist bei dem denn los?“, „Hat der sie nicht mehr alle?“, und so weiter…

Auch hat mir mit Sicherheit die Abwesenheit der Konsole und der eingeschränkte Zeitvertreib auf sozialen Netzwerken – die Instagram und Facebook App habe ich am Anfang meines Freiwilligendienstes gelöscht – gut getan. Ganz deutlich merke ich dies, wenn ich ein lese. Während ich die letzten Jahre immer wieder den Versuch gestartet habe privat ein Buch zu lesen, fehlte es an Konzentrationen und Interesse. Da war ja die Playstation oder YouTube, was einen viel besser beschäftigt hat. Ich konnte mich einfach nichtmehr in Ruhe auf einen Roman konzentrieren ohne mit den Gedanken wo anders zu sein. Inzwischen habe ich in Indien fast 20 Bücher gelesen und habe wieder große Freude daran gefunden. Nun muss ich mich sogar selbst bremsen, damit sich hier nicht zuviele Bücher stapeln, welche dann letztlich in Indien bleiben müssen.

Was vermisst du aus Deutschland?

Klar, das ein oder andere fehlt einem in Indien doch. Vor allem beim skypen oder schreiben mit Familie und Feunde denkt man sich, dass es schön wäre mal sich mal wieder zu sehen und Zeit miteinadner zu verbringen. Somit steigt aber natürlich auch die Vorfreude auf das Wiedersehen.

Samstag abends, wenn ich über Internetradio bei der Bundesliga mitfiebere kommen auch Sehensüchte nach einem Besuch im Schwarzwaldstadion hoch. Auch selbst mal wieder auf dem Fußballplatz zu stehen und ein Punktspiel zu bestreiten wäre was Schönes. Auf einen Konzertbesuch und Schlagzeugspielen bekomme ich Lust, wenn ich Musik höre.

Letztlich hält sich das aber alles sehr in Grenzen, und ich bin froh, dass ich noch kein richtiges Heimweh hatte. Dafür fühle ich mich hier auch einfach zu wohl.

Wo ist denn bitte die ganze Zeit hin?

Keine Ahnung. Die sechs Monate vergingen wie im Flug…

Insgesamt bin ich unglaublich glücklich über das vergangene Halbjahr und hatte eine sehr schöne Zeit bisher. So soll es natürlich auch weiter gehen und ich werde jeden Moment bis zu meiner Abreise genießen.

Grüße aus Indien

Euer Hendrik

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  1. Hauer

    Lieber Hendrik, ich habe mich gerade mit Begeisterung durch deinen Blog gelesen und finde es unglaublich schön, dass Du den Mut aufgebracht hast, solch ein Freiwilligenjahr zu absolvieren. Indien polarisiert…man liebt es oder man hasst es. Für mich ist Indien mit nichts zu vergleichen und einen krasseren Wechsel kann es wohl auch kaum geben, wenn man bisher sein Leben in Rust verbracht hat. Ich wünsche Dir noch eine tolle und gesunde Zeit in Indien. Namaste Sabine Hauer

    • Hendrik Schwörer

      Wanakkam Frau Hauer,
      es freut mich, dass sie meinen Blog so gerne lesen. Auch, wenn einige Vorstellungen und Klischees über dieses Land, welche ich noch vor meinem Flug nach Indien hatte, bestätigt wurden, ist natürlich der Kontakt zu dieser Welt nun ein ganz anderes Erlebnis, als ich es mir jemals hätte ausdenken können. Die unglaublichen Disparitäten (das Wort hab ich bei ihnen gelernt – das musste ich jetzt bringen) innerhalb dieser Welt bringen einen immer wieder zum staunen. Aber mir gefällt es unglaublich gut hier, wozu vor allem die Menschen einen großen Beitrag leisten.
      Vielleicht ergibt sich ja noch ein Vortrag über mein Freiwilligendienst am Städtischen. Damit ich auch andere für solch ein Jahr begeistern kann.
      Liebe Grüße und bis dann,
      Hendrik

  2. Specht

    Hallo Hendrik
    Es ist immer wieder schön von dir zu lesen und an deinem Leben in Indien teilhaben zu können. Ich bewundere deinen Mut ein solchen Freiwilligendienst zu leisten.
    Respekt 👍🏻!!!
    Es freut uns das es dir so gut gefällt.
    Genieß die zweite Halbzeit und bleib gesund.
    Ganz liebe Grüße von uns beiden.

    Gabi und Katharina

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