Hannah in Indien

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Kulturschock

Vielleicht mag es dem ein oder anderen komisch erscheinen, dass ich nach drei Monaten über Kulturschock schreibe, aber so lange hat es tatsächlich gedauert, bis man sich über einige Dinge klar wird und schließlich akzeptieren muss, dass das was man gerade erlebt oder gehört hat keine Ausnahme, sondern die Realität ist.
Indien, das Land der Gegensätze! Diese Aussage hat wohl jeder schon einmal gehört, aber wie wahr es ist, das merkt man erst wenn man einige Zeit in diesem Land und mit diesen Menschen verbracht hat. Bettelarm und richtig Reich wohnen hier Tür an Tür und Tradition und westliche Moderne gehen Hand in Hand auf jeder noch so kleinen Straße, egal ob geteert und mit Schlaglöchern oder aus rötlicher Erde spazieren.
Ich habe lange gebraucht um die zwischen dem Haus gegenüber und der Straße aufgespannten Palmenblätter als Dach einer Wohnstätte zu erkennen und nicht einfach nur als Schattenspender für den darunter sitzenden, Bananen verkaufenden Inder.
Genauso lange habe ich gebraucht um zu verstehen, dass es, zumindest hier im Süden Indiens, wirklich noch selbstverständlich ist, dass Ehen arrangiert werden und es auch davor keinerlei Beziehung zwischen Männern und Frauen gibt. Ich habe ein sehr gut gebildetes, aus einer wohlhabenden mittelschichts Familie stammendes Mädchen kennengelernt, für die es schockierend zu hören war, dass die jungen Menschen in Europa ihre zukünftigen Lebenspartner selbst aussuchen können bzw. dass Frauen in Europa so unabhängig sind, dass sie auch gar keinen Lebenspartner brauchen.
Wäre ich in einem wirklichen Entwicklungsland, würde mich diese Denkweise vielleicht nicht so stören, aber da ich einem Land bin, das sich selbst als entwickelt bezeichnet und in dem die Männer genauso wie jeder westliche Mann lebt leben, da kann ich es nur sehr schwer akzeptieren, dass die Frauen sich so von dieser Modernisierung ausschließen. Manchmal frage ich mich ob ich zu streng mit ihnen bin und es als mutig ansehen müsste, dass sie sich einfach weigern sich anzupassen, aber wenn ich dann sehr intelligenten jungen Frauen begegne, die nicht studieren und dies auch gar nicht wollen, einfach weil es ihnen ihre Kaste verbietet, dann kann ich nur mit Unverständnis reagieren.
Ein weiteres Thema ist die Hierarchie. Zwar verschwimmen die Grenzen zwischen den traditionellen Kasten immer mehr, doch die Modernisierung baut neue Barrieren, durch die sich die Menschen hier in einer sehr extremen Form voneinander abheben. Wer einen guten Bildungsabschluss vorweisen kann, hat damit auch automatisch die Berechtigung erworben sich über die Anderen zu stellen, was von den Meisten widerspruchslos hingenommen wird. Genauso die Unterwürfigkeit der Frau dem Mann gegenüber oder des Arbeiters zum Chef. Vielleicht bin ich zu Deutsch, aber mir fehlt in Indien der Mut zur direkten Kritik und zur direkten Konfrontation. Gefällt einem etwas nicht, so wird zwar hinter dem Rücken des Verantwortlichen geschimpft, aber die Kritik bei ihm vorzubringen, traut sich fast niemand.
Natürlich gibt es Ausnahmen. Ich denke an eine unserer Mitarbeiterinnen, die Krankenschwester gelernt hat, nur ein Kind hat und jetzt bei den Salesianern arbeitet, um sich ihr Psychologiestudium zu finanzieren. Oder an Mr. Franz und seine Frau, deren Eheschließung vor 25 Jahren eine Liebesheirat war und in deren Beziehung sie diejenige ist, die das große Geld verdient und kurze Haare trägt!
Auch denke ich an unsere Fathers, die ihren Anspruch auf einen Platz ganz oben in der Hierarchie, sehr oft Zugunsten derer, die in den Augen vieler Inder minderwertige Menschen sind aufgeben und sich auf sie einlassen.

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  1. Benedict Steilmann

    Toller und offener Eintrag. Danke dafür.
    Benedict

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