Nach dem Abendessen in der Kommunität mache ich mich, um 21 Uhr, nochmal auf den Weg in Richtung Stadtzentrum. Dort erwartet mich Robert, ein Erzieher aus dem Foyer, bereits an der Ampel einer Kreuzung, wie verabredet. Ich halte mit meinem Mofa an der roten Ampel an, Robert setzt sich hinten drauf. Die Ampel schaltet auf Grün, die Motos hinter und neben mir hupen, wir fahren los.
Nach circa fünf Minuten Fahrt kommen wir an einer abgelegenen Tankstelle am äußersten Stadtrand an. Wir steigen ab. Das Moto wird mit einem Fahrradschloss an einer flackernden Laterne festgebunden. Die Sonne ist bereits seit drei Stunden verschwunden, es ist stockduster. Mit einer Taschenlampe bewaffnet, machen wir uns auf die Suche. Auf die Suche wonach? Straßenkinder.
Kinder, die entgegen aller Erwartungen nicht zu Hause im Schutz der Familie ruhig schlafen können, sondern diese, die am Straßenrand schlafen oder an irgendeinem Nachtverkaufsstand, wo in der Regel immer ein kleiner Fernseher läuft, im Fernsehlicht herumlungern und darauf warten, dass sie so müde sind um problemlos einschlafen zu können. Oft haben diese Kinder einen sogenannten „Patron“ welcher ihnen nachts in seinem Atelier einen Platz zum Schlafen anbietet. Im Gegenzug helfen die Kinder diesem tagsüber bei kleinen Aufgaben, die anstehen. Botengänge, Sisyphusarbeit, eben das was man ungern selber macht, wenn es ein anderer für einen erledigen kann.
Wir gehen also diesen dunklen, von vereinzelten Motorengeräuschen gestörten, aber sonst absoluten stillen Sandweg entlang. An einem dieser eben erwähnten Verkaufsstände sehen wir einige Kinder. Da es allerdings noch nicht so spät ist, setzen wir uns in einiger Entfernung hin und warten. Nach circa einer Stunde sind die meisten Kinder, gutgekleidet, nach Hause gegangen. Nur ein Junge bleibt bis zum Ende. Blaise, 13 Jahre. Die Eltern beide tot, er lebt bei seiner Großmutter. Dort ist er jedoch nur selten. Die meiste Zeit verbringt er auf der Straße. Laut eigener Aussage geht er tagsüber noch zur Schule. Blaise selber ist kein akuter Fall. Jedoch kann er uns Informationen liefern. Wir versuchen mit ihm ins Gespräch zu kommen. Er ist schüchtern. Verständlich. Ein 13-jähriger Junger trifft nachts auf der Straße zwei Erwachsene Männer. Da wäre alles andere als schüchtern und misstrauisch zu sein reinster Selbstmord. Wir haben jedoch keine bösen Absichten.
Nach einiger Zeit haben wir sein Vertrauen gewonnen. Wir fragen Blaise ob es noch andere Kinder gibt, die auf der Straße leben. Er bejaht und bittet uns ihm zu folgen. Wir gehen also hinter ihm her. Es ist schwierig seinem schnellen Schritt zu folgen, sodass er immer fünf Meter Vorsprung hat.
Blaise hat außer einer pinken Jogginghose nichts an. Sein zerrissenes T-Shirt trägt er über die Schulter geworfen, Schuhe hat er keine. An einem schicken Haus angekommen, wundern wir uns erst: Blaise geht in den Hof des Hauses. Robert und ich warten an der Pforte zum Hof und setzen uns auf die Steine davor. Ein paar Augenblicke später kommt Blaise zurück. Im Schlepptau folgt ihm Joseph. In diesem schicken Haus hat er bei einem Freund noch TV geguckt. Joseph ist 12 Jahre alt – er geht seit der vierten Klasse nicht mehr zur Schule. Es ist sehr schwierig sein Vertrauen zu gewinnen. Er redet nicht viel. Wir sitzen zusammen auf den Steinen. Ich wende mich Blaise zu und rede mit ihm ein bisschen über Fußball. Daraufhin frage ich Joseph, ob er Fußball mag, was er bejaht. Ansonsten herrscht wieder die Stille. Wir sitzen einige Zeit auf den Steinen. Ab und zu fährt ein Fahrrad vorbei, manchmal ist es ein Fußgänger im Schutze der Dunkelheit. Es ist sehr schwierig etwas aus ihm rauszubekommen. Als er jedoch merkt, dass wir keine bösen Absichten haben, und sieht dass Blaise uns vertraut, fängt er langsam an zu reden.
Joseph erzählt, dass seine Eltern getrennt sind und er bei seinem Vater lebte bevor es ihn auf die Straße zog. Er sagt, dass das Essen nicht mehr ausreichend ist seitdem seine leibliche Mutter von zu Hause weggegangen ist und dass die neue Frau seines Vaters ihn nicht gut behandelt. Nachts schläft er bei seinem Patron, zusammen mit ihm auf einem Stück Karton, direkt vor dem Atelier des Patrons, an der Tankstelle wo Robert und ich das Moto abstellten. Tagsüber ist er auch dort zu finden. Abends habe er die Gewohnheit bei einem Freund fernzusehen.
Joseph ist ein Fall für uns. Wir fragen ihn, ob er sich vorstellen könnte uns zu zeigen wo sein Vater wohnt. Joseph ist einverstanden. Ich habe fast den Eindruck er ist glücklich darüber, dass wir ihn gefragt haben. Wir erklären ihm wer wir sind und was wir machen, dass wir ein Foyer betreiben und uns für Straßenkinder einsetzen. Joseph macht einen sehr intelligenten Eindruck. Er ist jedoch immer noch sehr still und redet nicht mehr als nötig.
In diesem Viertel ist unsere Mission für heute beendet. Robert und ich gehen zurück zu der Laterne, an welcher das Mofa angebunden ist. Joseph begleitet uns. Er bleibt direkt bei seinem Patron und seinem Atelier. Wir verabschieden uns vom ihm und sagen, dass wir in den nächsten Tagen wiederkommen werden. Robert und ich wollen den Fall am nächsten Tag mit dem Foyer-Verantwortlichen besprechen und machen uns auf den Weg zurück ins Stadtzentrum, denn der nächtliche Ausgang ist noch nicht beendet.
Es ist ca. 23:30 Uhr. Im Stadtzentrum ist auch um diese Uhrzeit noch etwas los. Links und rechts sind überall Bars mit lauter Musik, wobei man den Eindruck hat, dass die eine Bar die andere an Lautstärke überbieten möchte. Nun sind wir jedoch nicht hier, um die laute Musik der Bars zu begutachten und uns zu betrinken, sondern im Auftrag Don Boscos unterwegs.
Eine der Bars ist ein Hotspot für Prostituierte. Robert und ich setzen uns in sicherer Entfernung auf eine Mauer und beobachten die Seitenstraße der Bar, in der Hoffnung junge Mädchen zu finden, welche sich prostituieren. In der letzten Mitarbeiterversammlung wurde dieses Thema angesprochen. Bisher haben wir uns fast nur auf Jungs fokussiert. Straßenmädchen zu finden ist noch mal eine Nummer schwieriger, dabei betreiben wir auch ein Mädchenfoyer. So saßen Robert und ich also eine geschlagene Stunde dort und haben erst mal nur beobachtet.
Als dann ein junges Mädchen an uns vorbei ging, in Richtung Bar, hat Robert sie angesprochen und versucht etwas über sie herauszufinden. Als er sie fragt wie alt sie ist, lügt sie. Sie sei 19 Jahre alt. Sie ist höchstens 14. Wie lange sie noch hier sei? Bis 1 Uhr oder 2 Uhr. Wir lassen sie weitergehen. Mehr als dieses eine junge Mädchen ist heute nicht drin. Und auch sie scheint kein Straßenkind zu sein, sondern möchte sich wohl eher neben der Schule noch was dazu verdienen. Ob ihre Eltern etwas davon wissen bezweifle ich ganz stark.
Mit dem Ziel bei nächtlichen Ausgängen öfter und gezielter Straßenmädchen aufzuspüren, geht der heutige Arbeitsabend um 0:30 Uhr zu Ende. Wir gehen zum Moto, fahren los und ich lasse Robert an der Ampel absteigen, wo wir uns getroffen haben.
Roberts Engagement, mit Ende 40 und drei Kindern, nachts rauszugehen ist sehr wertvoll. Auch seine über 15 Jahre Erfahrung im Foyer kommen ihm bei der Arbeit mehr als zugute.
Als ich nach Hause komme denke ich noch einen kleinen Moment an Joseph und wie es mit ihm weitergehen könnte, bevor ich müde und erschöpft einschlafe.
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