Mein Name? Ich weiss es nicht. Man nennt mich Papa.
Mein Alter? Gute Frage, ich wurde 2002 geboren, ich müsste elf sein oder vielleicht auch schon zwölf.
Wo ich wohne? Auf der Straße.
Wieso? Mein Vater ist vor vier Jahren gestorben, meine Mutter hat einen neuen Mann geheiratet. Er hat mich immer geschlagen. Irgendwann habe ich es nicht mehr ausgehalten und bin weggelaufen. Seitdem lebe ich auf der Straße.
Wovon ich lebe? Das werde ich dir erzählen…
Es ist Dienstagmorgen sieben Uhr. Ich bin schon seit ein paar Stunden wach – der frühe Vogel fängt den Wurm. Auf dem großen Markt findet man immer Arbeit, ansonsten in einer der unzähligen Seitenstraßen. Ich kehre für einige Leute vor ihren Ständen, welche dabei sind sie aufzubauen. Ich kriege 100 Francs! Du fragst dich wie viel 100 Francs sind? 15,267 Cent in deinem Geld.
Gar nicht schlecht, oder?! Ich muss weiter, ein vollgeladener LKW wartet in einer der Seitenstraßen darauf entladen zu werden. Um acht Uhr morgens ist es wirklich schon heiß, das kriege ich jetzt zu spüren. Zusammen mit ein paar anderen Jungs schiebe ich den mit Waren bepackten, bollerwagenähnlichen Wagen die Straße hoch in Richtung Geschäft. Dort angekommen entladen wir den Wagen und gehen wieder zurück um das gleiche noch einmal zu wiederholen. Es ist echt schwierig zwischen den ganzen Moto-Taxis, welche ungehemmt und viel zu unvorsichtig durch die Gegend düsen. Kein Wunder dass es immer so viele Unfälle gibt! Erst gestern habe ich wieder einen schlimmen Crash gesehen, ich glaube einer der beiden Fahrer ist dabei sogar gestorben. Die Leute halten es trotzdem nicht für nötig Helme zu tragen.
Überall am Straßenrand stehen die Marktstände. Man findet wirklich alles mögliche: Handys, Fleisch, Orangen, Ananas, Mangos, Schmuck, Schuhe, Hosen, T-Shirts, Besen, DVD’s und so weiter. Aber das ist alles so teuer. Eine Orange kostet schon 50 Francs! Eine Mango fast 200. Und ein Handy.. das ist unter 7000 Francs nicht zu bekommen. Ich brauche erst mal ein neues T-Shirt, meins wurde mir nämlich letzte Nacht gestohlen. Ich hatte es ausgezogen weil es zu heiß war und mich drauf gelegt. Am nächsten Morgen war es weg, genau wie meine 100 Francs die ich aufbewahrt hatte.
Ein zweites Mal die Schieberei in der prallen Sonne. Es ist einfach zu heiß. Immerhin bin ich nach der ganzen Tortur, völlig durchgeschwitzt und erschöpft, um 300 Francs reicher. Ich habe schon 400 Francs verdient heute. In deinem Geld also ca. 60 Cent. Damit könnte ich den Tag eigentlich überleben, wäre da nicht noch das T-Shirt was ich mir kaufen möchte. Klar, ich könnte es auch wie die anderen machen und oberkörpferfrei durch die Gegend laufen, aber das hat mir noch nie gefallen.
Nach der Arbeit gönne ich mir erst mal ein Frühstück, ich muss ja schließlich gestärkt in den Tag gehen. Für 100 Francs kaufe ich mir Pate mit Soße. Pate ist zerstampfter Mais mit Wasser gemischt.
Das Essen ist leider nur viel zu kurz lecker, dann ist es schon aufgegessen. Irgendwie fühle ich mich noch nicht richtig satt.
Ein anderes Straßenkind, George, fragt mich, ob ich ihn zum Fluss begleiten möchte, er wolle sich waschen. Durchgeschwitzt wie ich bin und bei der Hitze, habe ich gegen so ein kleines Bad im Fluss nichts einzuwenden. Also gehen wir los. 15 Minuten später schwimmen wir im Fluss und amüsieren uns gut. Außerdem treffen wir Kibalo, Kossi, Sogoyou und Rodrigue. Wieso sie nicht in der Schule sind? Ist doch ganz einfach, sie sind auch Strassenkinder.
Zusammen sind wir sechs wie eine Familie. Naja nicht richtig, wir streiten und schlagen uns oft aber wenn es drauf ankommt halten wir zusammen. Nachts zum Beispiel versuchen wir uns gegenseitig vor den Großen zu beschützen. Also irgendwie doch wie eine Familie.
Die Großen klauen uns immer unsere hart erarbeiteten Sachen. Hundert pro war es ein Großer der mir mein T-Shirt und mein Geld geklaut hat. Aber irgendwie kann man da nichts gegen machen. Außer vielleicht dem Nachtwärter von einem kleinen Geschäft 100 Francs geben, damit er während man schläft auf einen aufpasst. Aber das kann man sich doch nicht jede Nacht leisten. Außerdem schläft er meistens auch immer, ist also im Endeffekt rausgeschmissenes Geld.
Insgesamt verbringen wir zwei Stunden am Fluss. Dort essen wir auch zusammen. Wir kaufen uns an einem nahegelegenen Stand etwas Reis. Wenn einer kein Geld hat, dann gebe ich ihm ein bisschen was von meinem Reis ab. So machen wir sechs das unter uns. Wenn ich morgen beispielsweise keine Arbeit finde, dann gibt mir jemand anders etwas ab. So helfen wir uns gegenseitig zu überleben.
Sogoyou hat die Idee zum Club zu gehen. Der Club ist ein schäbbiges kleines Haus mit zwei Zimmern, naja eigentlich einem, aber es ist durch einen Vorhang getrennt. In dem einen Zimmer gucken die Großen immer irgendwelche Filme wobei sie den Fernseher viel zu laut aufgedreht haben. In dem anderen Zimmer stehen zwei Fernseher mit Spielkonsolen davor. Ich habe da noch nie gespielt. 50 Francs für ein Fußballspiel auf der Playstation 2 zu zahlen ist mir irgendwie zu doof. Dafür spiele ich lieber zwei Runden draußen am Tischkicker mit den Jungs. Ansonsten verbringen wir hier immer den ganzen Tag und genießen das Leben.
Gegen 18 Uhr, wenn es dunkel wird, findet man in den Bars manchmal Weiße oder generell auch reiche Leute. Da geht es dann zur Rushhour unseres Tages. Wir betteln um die Wette. Wenn es gut läuft, kann man da zwischen 500 und 1000 Francs verdienen! Wenn es schlecht läuft, dann geht man leer aus.
Jetzt gucke ich aber erst mal, dass ich mir ein neues T-Shirt hole. Mit den 250 Francs die ich noch habe, werde ich schon irgendwas finden…
Schön ist es zwar nicht, und passen tut es mir auch nicht, aber ich wachse ja auch noch!
Ein altes, zerfetztes, zerfleddertes, viel zu großes T-Shirt konnte ich ergattern. Eigentlich wollte die Verkäuferin 300 Francs haben, aber sie hatte ein gutes Herz, also hat sie es mir für 250 gegeben.
Bei Einbruch der Dunkelheit machen wir uns auf die Jagd. Wonach wir jagen? Geld. Okay, jagen ist überzogen. Wir teilen uns auf, so sind die Chancen größer, dass einer von uns etwas bekommt. Ich fange vor dem Elektronikladen an, hier findet man oft alte weiße Männer, die geben eigentlich immer was. Ansonsten sind es immer die üblichen Hotspots die man abklappert um etwas Geld zu bekommen. Aber je älter man wird, desto geringer wird die Wahrscheinlichkeit, dass man von irgendwem etwas kriegt.
Ich bin heute leider nicht erfolgreich gewesen. Jetzt zeigt es sich schon wieder als hilfreich, dass ich heute Mittag geteilt habe – jetzt wird mir etwas abgegeben, von Kibalo, der heute gut abgesahnt hat.
Mit vollgeschlagenen Bäuchen, schließlich müssen wir einen Großteil des Geldes ausgeben damit es uns nicht geklaut wird, schlafen wir eng an eng im Lichte eines Geschäftes ein. Viel geschlafen wird eh nicht. Meistens holen wir das immer tagsüber am Fluss nach, wo wir unter uns sind.
„Was für ein Leben“, denke ich mir. Ich kann Tun und Lassen was ich will, habe meine Freunde, muss nicht in die nervige Schule, habe immer etwas zu Essen, mein Stiefvater schlägt mich nicht mehr. So kann ich ewig weiterleben…
…oder etwa doch nicht?!
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