Liebe Familie, liebe Freunde, Förderer, Bekannte und andere Interessierte,

Das Meer scheint unendlich zu sein. Vom Strand aus kann man das Ende des blauen Meerwassers nicht sehen. Hyderabad ist ein Meer. Ein Meer aus bunten Häusern und Straßen. Von den Dächern sieht man diese bis zum Horizont. Bei einer Autofahrt durch Hyderabad ist es, als ob die Stadt nicht ende und die Autos scheinen permanent in Flut zu sein. Mittendrin schwimme ich. Seit zwei Monaten schon.

Planmäßig hätte diese Rundmail euch schon vor einigen Tagen erreichen sollen. Bis heute hat die Zeit gefehlt, eine paar Zeilen zu schreiben. Ich bitte um Entschuldigung. Und diesmal hängt die Verspätung nicht mit dem Streik der Öffentlichen Verkehrsmittel in und um Hyderabad zusammen. Die Telangana Rashtra Samiti, eine aus der Unabhängigkeitsbewegung für Telangana entstandene Partei, hat vor etwa einer Woche den Streik beendet. Wer Interesse an den Ereignissen um den Telangana- Streik des letzten Monats hat, kann sich einen Bericht der Tageszeitung Junge Welt unter folgendem Link: http://www.jungewelt.de/2011/10-14/024.php durchlesen. Wie ich bereits in einem vorherigem Bericht dargelegt habe, bin ich mir dessen bewusst, dass diese Zeitung politisch links orientiert ist. Ihre Berichterstattung zu den Unabhängigkeitsbestrebungen in Andhra Pradesh ist aus meiner Sicht jedoch korrekt und differenziert.

Der Grund für meine Verspätung liegt an den ereignisreichen Tagen der letzten Wochen. Gelegentlich überrascht mich einer der Jungen mit der Nachricht, vor dem Haus stehe ein Auto, das mich zu einem anderen Ort bringen solle, da ich zu einer Veranstaltung, wie Kerzenverkauf in der Hitec City in der Nähe von Hyderabad zum hinduistischen Lichterfest Deepavali oder zu einer Professionsjubiläumsfeier von sechs Don Bosco Fathers im Provinzialhauses ebenfalls in der Nähe von Hyderabad, fahren solle. Innerhalb von zwei Minuten muss ich alle Sachen bereit haben, die für den Tag wichtig sein könnten. Wobei meist nicht weiß, was mich erwartet. Das macht den Alltag hier sehr abwechslungsreich und spannend.

Ein anderer Grund für die Verspätung meiner Rundmail ist, dass viele der Ideen von Anna, Theresa und mir, die in der letzten Rundmail angedeutet worden sind, in die Tat umgesetzt worden sind. Zweimal kamen ungefähr 25 Kinder zur Singstunde. Ein paar Einsingübungen haben wir ausprobiert und man hat gemerkt, dass die Kinder sich in der zweiten Singstunde, am vergangen Samstag noch an viele Übungen erinnern konnten. Auch das Lied This little light of mine, das wir in der ersten Stunde einstudiert hatten, war den Jungs noch präsent. Jetzt erarbeiten wir ein afrikanisches Willkommenslied für eine Gruppe von Don Bosco Mitarbeitern aus aller Welt. Sie werden am 06. Oktober in Ramanthapur ankommen.

Zur Schauspielstunde, am letzten Sonntag, kamen zwischen dreißig und vierzig Jungs im Alter zw. neun und zwanzig Jahren. Ein komplettes Chaos. Da wir mit dem Ansturm bei der Schauspielstunde gerechnet hatten, bieten Theresa, Anna und ich zwei Schauspielstunden an; eine am Nachmittag für kleinere Jungs und eine am Abend für ältere Jungs. Am Nachmittag sind an beiden Sonntag nur sehr kleine Jungs gekommen, die mehr Interesse haben zu spielen als Fernsehen zu gucken. Eine Schauspielstunde für diese Jungs ist kläglich gescheitert. So spielen und toben wir mit ihnen, um ihnen eine Alternative zum Fernsehen zu bieten. Jungs im Alter von neun bis vierzehn kamen nicht zu der Schauspielstunde am Nachmittag, weil sie Fernsehen zu dieser Zeit bevorzugen. Ich muss sagen, das Fernsehen als Konkurrenz zu haben, ist nicht leicht.

Die erste Schauspielstunde hat allen Beteiligten sehr viel Spaß gemacht. Eine Gruppe von fünfzehn Jungs machte motiviert und interessiert mit. Nach einer Gruppenphase in der sie in zweier Gruppen eine Szene mit den Worten Who me? Yes, you! erarbeiten sollten, fand eine Präsentation der Szenen statt. An Kreativität mangelt es den Jungen nicht. Ich war begeistert von ihrem Einfallsreichtum und von ihrem Mut. In der zweiten Schauspielstunde kamen dann auch viel mehr Jungs als in der ersten. Etwa 30 bis 40 Jungs standen um 18:30 vor der Tür des Soft- Skill- Centers. Auch die Jungs im Alter von 9 bis 14 Jahren, die wir am Nachmittag vermisst hatten. Eine Schauspielstunde mit 30 bis 40 Jungs schien uns unmöglich zu sein. Deshalb schrieben wir die Namen der 9 bis 14- Jährigen auf eine Liste und baten sie nächste Woche am Nachmittag wieder zu kommen, was verständlicherweise zu großem Protest führte. Nach etwa einer halben Stunde konnten wir die Schauspielstunde mit 26 Jungs beginnen. Es war wie erwartet sehr unruhig und unkonzentriert. Jedem ein individuelles Feedback zu geben war auch nicht möglich. Nach der Schauspielstunde merkte man, dass alle Jungs nicht zufrieden waren, insbesondere die Jungs, die zur vorherigen Schauspielstunde gekommen waren. Auch wir Volontäre waren nicht zufrieden. Wegen der verlorenen Zeit, konnten wir keine Kreativphase starten. Unsere Überlegung ist es, alle Jungs, auch die kleinen Jungs in drei Gruppen aufzuteilen und jeder von uns Volontären übernimmt eine Schauspielstunde, die dann alle am Abend stattfinden. Dann haben wir das Fernsehen als Konkurrenz ausgeschaltet.

Meinen Englischunterricht gebe ich von Montag bis Donnerstag mehr oder minder regelmäßig. Immerhin öfter als noch vor einem Monat. Die Jungs kamen meist ohne Bücher und Stifte, die sie eigentlich besitzen. So habe ich einige Kugelschreiber und Blätter mitgebracht. Nachdem mir von zehn Kugelschreibern vier gestohlen wurden, habe ich erst mal die Ausgabe der Materialen eingestellt. Vor einer Woche haben die Jungs dann jedoch zwei Stifte zurückgebracht und ich teile wieder Stifte aus. Bis jetzt ist noch keiner abhandengekommen. Thematisch müssen wir leider sehr trockene Themen behandeln. Die Vermittlung von Grammatik oder Vokabeln durch die Schulen erwies sich eher als dürftig. Mein Ziel ist es später eine Reise durch die ganze Welt zu machen. Jeden Kontinent. Auch geografische Kenntnisse sind eher dürftig. Ich möchte ihnen die Möglichkeit geben ein bisschen über den Tellerrand zu schauen. Das Thema Reden schreieben und halten werde ich voraussichtlich ganz am Ende machen, wenn die Zeit mir nicht davonrennt. Bevor wir die Reise starten können muss Grundwissen gelernt werden. Durch viele Spiele wie Galgenraten oder Montagsmaler, Personenraten, kann ich die Stunden ein wenig auflockern und einen Funken ihres Interesses wecken.

Vom späten Nachmittag bin ich stets beschäftigt. Games Time, Englischunterricht, Schauspiel- und Singstunden fordern meine volle Aufmerksamkeit. Die Vormittage gestalten sich eher bescheiden. Momentan baue ich für die Jungs eine Bibliothek auf. Sortieren, Katalogisieren von Bücher, Schrank einräumen. Von Der kleine Prinz, über die Grimms Märchen bis hin zu Fünf Freunde oder auch Die Chroniken von Narnia ist alles dabei. Ich hoffe die Jungs haben ihre Freude am Lesen. Ein Junge namens Lowrance kommt manchmal schon vorbei. Er hat sich ein Buch genommen als ich nicht hingeschaut habe und es in seine Tasche gesteckt. Am nächsten Tag hat er mir das Buch unversehrt wiedergegeben. Nun fragt er mich wann die Bibliothek aufmache und wann er weiterlesen könne.

Eine Weile wird es wohl noch dauern, weil Pläne hier nicht planmäßig realisiert werden können. Und Überraschungen mich ständig wie eine Welle überrollen. Mal scheint das Meer ganz ruhig zu sein und ich kann entspannt meine Aufgaben durchführen. Mal prasseln Unmengen von Wasser auf mich ein und das Wasser steht mir bis zum Hals. Mal werde ich von Wasser getragen, mal muss ich gegen den Strom fließen. Hyderabad ist wie ein Meer.

Wie in meiner letzten Mail möchte ich mich euch wieder auffordern, mir Fragen oder Ideen zu schreiben. Und euch auch noch mal auf meinen Blog www.strassenkinder.de/breitengrad17 aufmerksam machen, auf dem nun auch einige Blogs von anderen Volontären verlinkt sind, unter anderem auch die meiner Mitvolontärinnen Anna und Theresa.

Liebe Grüße aus Ramanthapur. Euer Tobi