Liebe Familie, liebe Freunde, Förderer, Bekannte und andere Interessierte,

Vorab: Struktur wird dieser ersten Rundmail fehlen. Davon kann man ausgehen. Denn Unstrukturiertheit strukturiert meinen Tagesablauf in Ramanthapur.

Ein Monat des Ankommens. Physisch und teilweise auch psychisch. Mal mehr, mal weniger. Den einen Tag gehe ich mit den Indern auf der Straße im Gleichschritt, im gleichen gemächlichen Rhythmus; den anderen Tag gehe ich entschlossen und bestimmt meinen Weg. Ab und zu folgt der Körper den indischen Schwingungen, dann bewegt er sich wieder im zackig deutschen Marschschritt. An einigen Tagen spricht man mit den Jungs im Don Bosco Projekt und Familie und Freunde rücken in den Hintergrund. An anderen Tagen bleiben die Gedanken an Zuhause im Kopf hängen.

Ich habe mich immer sehr über Post und E-Mails aus Deutschland oder auch anderen Teilen dieser Welt gefreut. Im den Nachrichten wurden mir viele Fragen gestellt.

Die viel gestellte Frage nach meinem Tages- bzw. Wochenablaufes wartet auf ihre Beantwortung. Meine Woche beginnt am Montag um 7:15 mit einer morgendlichen Mediation. Ein paar Lockerungsübungen aus dem Feld des Yogas. Dann im Schneidersitz eine Halbestunde meditiere. Von Montag bis Freitag beginnen die Jungs und ich so jeden Tag. Am Samstag und am Sonntag besuche ich den englischen Gottesdienst in der hauseigenen Kapelle. Nach der Mediation oder dem Gottesdienst gibt es Frühstück. Ich spreche hier und da mit den Jungs. Ruf die verträumten Jungs zur Essenshalle. Nach einem Morgenimplus, z.B. eine kleine Geschichte oder einen Gedanken für den Tag, gehen die Schoolboys in die Schule und die Tradeboys beginnen mit ihren Workshops für ihre Ausbildung.

Dann begleite ich am Montag und am Dienstag den Kindergarten oder die Klasse für Drop- Outs. Ich spiele und singen mit oder assistiere der Englischlehrerin. Nach dem Mittagessen habe ich Zeit meine eigene Englischklasse, die montags bis freitags vor dem Abendbrot  stattfindet, vorzubereiten. Zwischendurch gehe ich bei den Tee- und Kekspausen auf den Hof, um mit den Jungs ein bisschen zu plaudern. Sie machen kurze Pausen zwischen ihren Ausbildungseinheiten. Um 5:00 pm beginnt die Spielzeit. Basketball, Fußball oder auch Volleyball [im Moment leider nicht, weil der Volleyball kaputt ist] finden auf den Playgrounds statt.

Am Mittwoch und Donnerstag fahre ich am nach dem Frühstück nach Secunderabad zu einem anderen Don Bosco Center. Dort leben für drei Wochen die neuangekommen Jungs im Shelter, eine Art Kinderheim. Entweder spiele ich mit den Jungs im Spieleraum oder gehe mit einem Streeteducater zur Railway Station von Secunderabad, um nach Straßenkindern zu suchen. Alleine werde ich diese Aufgabe wahrscheinlich nie machen könne, weil die Straßenkinder meist nur Telegu oder Hindi sprechen. Gelegentlich kommen die Shelter- Jungs auch mit zur Streeteducation und sprechen mit den Straßenjungen. Am späten Nachmittag fahre ich zurück nach Ramanthapur, zur Spielezeit.

Nach der Spielzeit gibt es dann Englischklassen. Ich habe den Fortgeschrittenenkurs. Meine Jungs haben sich gewünscht von mir zu lernen, wie man Reden schreibt. Ein hochgradiges Lernziel. Problematisch ist, dass ich Schüler der Englisch- Medium und Telegu-Medium- Schulen habe. Somit können einige Jungen sehr gut Englisch sprechen, schreiben und verstehen und andere eher weniger. Zurzeit versuche ich alle auf ein nahezu gleiches Level zu bringen. Sie sollen voneinander lernen und sich gegenseitig unterstützen. Mal sehen, ob wir es schaffen Reden zu schreiben und Rhetorik zu üben. In dem einen Monat musste meine Englischklasse schon oft ausfallen, weil ein Fest oder Klausuren anstanden. Jetzt stehen die Quartalsklausuren an, deshalb fällt mein Unterricht für eineinhalb Wochen aus.

Vor einer Woche sind zwei Volontärinnen aus Österreich gekommen. Sie wohnen direkt in Secunderabad und helfen im bereits erwähnten Shelter, der ersten Anlaufstelle für Straßenkinder. Die Straßenkinder verbringen dort ein bis drei Wochen, um sich an einen geregelten Tagesablauf zu gewöhnen. Die Volontärinnen und ich sind ein wenig frustriert, weil unsere Einflussmöglichkeiten und unser Wirkungsgrad noch sehr minder und unsere Aufgaben bis heute noch sehr unklar sind. Wir haben einige Idee, die wir aber vorher mit dem Direktor der Projekte in und um Hyderabad/Secunderabad, Father Balashowry, absprechen müssen und dieser ist viel beschäftigt. So musste unsere Ideenbesprechung einige Male verschoben werden. Abwarten und Chai trinken. Das habe ich bereits in den ersten Wochen gelernt.

In Ramanthapur gibt es außer mir noch eine andere Mitarbeiterin aus den USA namens Melanie. Sie unterrichtet seit sechs Jahren Kunst in verschiedenen Projekten und Einrichtungen in Hyderabad/ Secunderabad. Gemeinsam mit ihr versuche ich ein Soft- Skill- Center oder Art- School zu aufzubauen. Auf dem Don Bosco Gelände in Ramanthapur gibt es ein altes Gebäude, das früher als Printing Press genutzt wurde. Da die Printing Press sehr erfolgreich arbeitet und Aufträge aus ganz Andhra Pradesh [Ein Bundesstaat Indiens, Hauptstadt Hyderabad] bekommt, musste vor einigen Jahren eine größere Werkstätte gebaut werden. Seitdem stand das Gebäude leer, was nun zum Soft- Skill- Centerum umgestaltet wird. In unserer Vorstellung wird das Soft- Skill- Center ein offener Raum sein, um Kunst zu gestalten und zu machen. Ein Ort an dem sich die Jungen künstlerisch ausdrücken dürfen. Melanie wird voraussichtlich bildende Künste und ich werde Gesangseinheiten und vielleicht ein paar Chorstücke anbieten. Abwarten und Chai trinken. Denn momentan kommt der Aufbau des Soft- Skill- Centers ins Stocken, weil Melanie nicht nach Ramanthapur kommen kann. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Öffentlichen Verkehrsmittel streiken. Ihr Ziel ist es, die Politikerinnen und Politiker unter Druck zu setzten. Die Streikenden fordern, dass Hyderabad/ Secunderbad von Andhra Pradesh separiert wird und ein unabhängiger Bundesstaat Indiens wird. Welche Motive genau dahinterstehen habe ich nicht verstanden. Durch den Busstreik auch ändert sich mein Wochenplan. Ich kann nicht nach Secunderabad fahren und Streeteducation machen.

Für einen Europäer, insbesondere für einen Deutschen, ist Unbeständigkeit oder fehlende Struktur, so wie es sie in Indien gibt, eine neuartige Erfahrung. Dieser Monat war gesättigt von neuartigen und spannenden Erlebnissen. Situationen in denen ich die Welt wie ein Kind neu erleben durfte. Eine Welt so fremd und doch so nah. Manchmal habe ich das Gefühl, sie öffnet sich mir vollkommen, verschließt sich nicht. Die Jungs in Ramanthapur nehmen meine Hand und zeigen mir ihre Welt. So wie sie ist, unbeständig und spannend.

Ausschnitthafte Erfahrungen und Erlebnisse aus meinen Tagen in Ramanthapur kann man auf meinem Blog www.strassenkinder.de/breitengrad17 nachlesen.

Mit mir wurden noch 23 andere Volontäre aus Deutschland in die ganze Welt entsendet. Ihre Blogs findet ihr unter  www.strassenkinder.de . Wenn ihr Lust und Zeit habt, klingt euch doch durch die interessante Seite. Es lohnt sich.

Vermutlich habe ich viele Fragen offen gelassen oder Neue aufgeworfen. Ich freue mich weiterhin über eure Anregungen und Fragen und bemühe mich alle aufzunehmen und zu beantworten.

Liebe Grüße aus Ramanthapur. Euer Tobi