13.02. 2012

Liebe Familie, liebe Freunde, Förderer, Bekannte und andere Interessierte,

Der Alltag hat mich eingeholt. Vor einigen Monaten noch schien sich keine Tagesstruktur zu festigen. Jetzt bin ich gefangen im Zeitplan.

Dennoch ist diese Mail, wie die Vorherigen, verspätet. Zeit für Schreiben bleibt in meinem Alltag eher wenig.

Einige Tage vor Weihnachten musste ich mich der Kritik der Fathers meines Projektes stellen. Während des Gesprächs mit ihnen schien es mir als ob sie alle aufgestaute Wut und Enttäuschung über meine Vorgänger frei ließen.

Am Weihnachtstag direkt hatte ich ein sehr produktives und konstruktives Gespräch mit einem Father, sein Name ist John. Er gab mir gute Tipps, wie ich mit den Mitarbeitern, Brothers und Fathers besser und effektiver kommunzieren kann. Die Kommunikation fiel und fällt mir nicht ganz leicht. Eine ältere Mitarbeiterin verstand jede meiner Fragen als Demonstration meiner Respektlosigkeit gegenüber Älteren. In Indien stellt man älteren Herrschaft keine Fragen. Wobei man das auch nicht pauschalisieren darf? Father John kann ich zu jeder Tageszeit eine Frage stellen. Er freut sich über meine Neugier und mein Interesse. Ich muss lernen mit jedem Mitrabeiter, jeder Mitarbeiterin individuell umzugehen. Momentan funktioniert das mehr oder weniger gut.

Mit den Brothers arbeite ich nun Hand in Hand. Das Frühstück und Abendessen betreuen die zwei Brother, das Mittagessen betreue ich. Wenn man die jeweilige Mahlzeit nicht betreut, isst man schnell, um den Betreuer der Mahlzeit ablösen zu können. Wenn einer von uns Dreien krank ist, übernimmt ein anderer die Aufgaben des Kranken. Manchmal funktioniert die Zusammenarbeit sehr gut an anderen Tagen habe ich das Gefühl, meinen Platz in dem Gefüge noch nicht gefunden zu haben. Beispielsweise wenn ich Informationen nicht mitgeteilt bekomme. Z.B. wurde meine Englisch-Klasse durch das Klingel der Supper-Glock früher als sonst beendet. Warum wusste ich nicht. Dann erfuhr ich, dass ein Sponsor sich für das Abendbrot angekündigt hatte und das Abendbrot vorverlegt wurde. Von den Brothers oder Fathers hat mich niemand informiert. Im Vergleich zu anderen Mitarbeiter kann ich mit den Brothers gut zusammenarbeiten.

Die Zusammenarbeit mit anderen Mitarbeitern ist eher frustrierend und enttäuschend. Im Soft-Skill-Centre gibt es eine Kunstlehrerin aus Indien, die kein Interesse daran zeigt mit den Jungs gemeinsam Kunst zu machen. Seit Anfang des Jahres betreue ich nach dem Mittagessen den Brigdecourse, ein Kurs zur Überbrückung des Zeitraums zwischen Shelter und Einschulung. Morgens lernen die Jungs Grundwissen in Telegu, Englisch und Mathe. Am Nachmittag singe ich Lieder mit ihnen, mache Spiele auf Englisch oder gehe mit den Jungs ins Soft-Skill-Centre, um künstlerische Aktivitäten zu machen. Mit mäßigem Erfolg. Die Kunstleherin empfindet die Kinder eher als störend. Sie muss verschiedene Dekorationen für verschiedene Programme, wie z.B. das Don Bosco Fest am 31. Januar vorbereiten, wo man die Jungs optimal mit einbinden kann. Das bedeutet allerdings Arbeit. Viele von den Jungs hatten noch nie eine Schere in der Hand. Es scheint als fielen die Jungs ihr eher zu Last. Auch wenn ich ihr anbiete mit den Jungen alleine im Soft-Skill-Centre zu basteln, fühlt sie sich gestört. Das Soft-Skill-Centre, so wie Melanie und ich es vorstellen, ist eine freier Raum für bildende und darstellende Künste für die Jungs. Also sollten sie sich auch in diesem Raum bewegen dürfen. Meine Rede über den Zweck des Soft-Skill-Centres hat wenig Effekt. Die Kunstlehrerin fühlt sie in ihrer Arbeit von den Jungs gestört. Nächste Woche wird Melanie aus den USA wiederkehren. Ihr vertraut die Kunstlehrerin aufgrund ihres Alter und ihrer Erfahrung mehr als mir. Die Unantastbarkeit und Unfehlbarkeit der Älteren scheint mir in Indien sehr hochgehalten zu sein.

Auch meine Schauspiel- und Singstunden konnten seit längerer Zeit nicht stattfinden. Vor der Feier des Don Bosco Tages am 31. Januar, gab es jeden Tag Wettkämpfe in verschiedenen Disziplinen, wie Singen, Rhetorik oder Cricket, so auch Samstag und Sonntagabend. Der Zeitraum  in dem ich meine Sing- und Schauspielstunden abhalte. Leider hielt man es nicht für nötig, diese Wettkämpfe mit mir abzusprechen. Ich bin mir nicht sicher, ob wir ein Theaterprojekt realisieren können, wenn man andere Programme in den Zeitraum der Sing- und Schauspielstunden legt, ohne mit mir Rücksprache zu halten. Das zeigt mir auch, wie sehr die anderen Mitarbeiter meine Arbeit schätzen.

Dafür wurde mir ein neuer Aufgabenbereich zugeteilt, den keiner der Mitarbeiter gerne und gewissenhaft ausführt. Die Registration und Dokumentation der Jungs. Wann und Warum ist der Junge von zu hause weggelaufen? Ist er Waise oder hat er Familie? Wann sind die Jungs von anderen Centern nach Ramanthapur überstellt worden? Wie sieht der Junge aus? Was stellt sich der Junge für seine Zukunft vor? Ist der Junge momentan in Ramanthapur oder in einem anderen Don Bosco Projekt? Oder ist der Junge fortgelaufen und seit wann wird er vermisst? Alles Daten mit denen nicht umsichtig umgegangen worden ist. Viele Dokumente, Fotos und Daten von Jungs, die in Ramanthapur waren, fehlen. Es ist meine Aufgabe die Lücken der Vergangenheit aufzuarbeiten. Eine Arbeit, die nicht gerade meiner Vorstellung eines Volontärs entspricht, aber eine Arbeit von hoher Relevanz und Bedeutung. Ich hoffe, dass diese Arbeit bald nur einen geringen Teil meines Alltags einnimmt und ich die Daten nur updaten muss und nicht die Lücken und Fehler der Vergangenheit schließen muss. Einen Vorteil hat die Arbeit: Man erhält Informationen, die man vorher nicht gewusst hat, und kann sensibel und individuell mit dem Kind umgehen.

Z.B. kann ich die Informationen in meinem Englischunterricht berücksichtigen. Und mir erklären, warum Kinder reagieren, wie sie reagieren. Da meine Schülerzahl von zwischenzeitlich vier auf fünfzehn gestiegen ist, ist es schwierierger geworden jedes Kind individuell zu fördern. Vor ein paar Wochen habe ich einen Kontakt zu einer Lehrerin aus Österreich hergestellt. Es ist die Englischlehrerin des Bruders von Anna, meiner Mitvolontärin. Ihre Klasse und meine Schüler werden an einer Brieffreundschaft teilnehmen. Zum einen ist der Aspekt des Kulturaustausches daran interessant. Zum anderen verbessern sie so ihr Englisch in einem Spielraum der mit der Wirklichkeit verbunden ist. Gestern sind die ersten Briefe aus Österreich angekommen. Ich bin gespannt wie meine Jungs reagieren werden.

Sicher fragt ihr euch, wie das Weihnachts- und Neujahrsfest verbracht habe.

Dazu könnt ihr bald Artikel auf meinem Blog www.strassenkinder.de/breitengrad17 lesen.

Beim Durchstöbern der deutschen Presse bin ich auf eine interesante Reportage der Wochenzeitung DIE ZEIT gestoßen. Besuchen sich zwei Riesen… [Unter folgendem Link zu finden: http://www.zeit.de/2012/07/China-Indien/komplettansicht ]  Eine Entdeckungsreise eines Inder in China und eines Chinesen in Indien. Äußerst empfehlenswert.

An dieser Stelle möchte ich noch einmal Danke sagen. Danke für eure Unterstützung, für eure warmen Worte und Nachrichten, die mich immer wieder neu motivieren und stärken, für alle Postkarten und Packete, die alle einen besonderen Platz in meinem Zimmer bekommen. TausendDank.

Der Alltag holt mich schon wieder ein. Ich bin gefangen in ihm. Zeit für Schreiben bleibt in meinem Alltag eher wenig. 

Liebe Grüße aus Ramanthapur

Euer Tobias