In den letzten drei Wochen ging es von Tag zu Tag und von Woche zu Woche immer weiter vorwärts. Noch weiter vorwärts muss man ja sagen, denn die Anfangszeit war ja auch quasi nur von aufregenden, positiven Veränderungen geprägt, die mir das Einleben so richtig einfach gemacht haben. In der letzten Zeit haben sich sowohl die Alltagsroutine als auch die Beziehungen zu den Jungs weiter verfestigt; Im Volo-Haus gab es dagegen Bewegung: Der ecuadorianische Volontär hat mittlerweile seinen einjährigen Freiwilligendienst beendet, während ein neuer Freiwilliger Teil von unserer Volontärs-Familie geworden ist.

Kurzer Hinweis: Ich hab meinen Blogeintrag in 3 Abschnitte gegliedert. Der Erste bezieht sich mehr auf politische Inhalte, der Zweite handelt von meinem Alltag und der Dritte beschäftigt sich mit dem Tag der Toten.
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Abschnitt 1:

Zuerst aber muss über die Präsidentschaftswahl hier im Land geredet werden, denn zum aktuellen Zeitpunkt wird meine Denk- und Schreibarbeit von entfernter, lauter Musik und Feuerwerkskörpern begleitet (19. Oktober). Die Schulen, in denen gewählt wurde, haben um acht Uhr morgens geöffnet. Dann sind die Leute bis 16 Uhr zum Wählen geströmt und danach konnten sie von den vielen Streetfood-Ständen profitieren, welche sich vor den Schulen aufgebaut haben. Die Wahl galt als sehr wichtig, weil nach 20 Jahren nun nicht mehr die linke MAS (Movimiento al Socialismo) regieren würde; das war schon vor dem heutigen Tag klar, da ihr Kandidat es nicht zur Stichwahl geschafft hatte. Nun hat Rodrigo Paz, der dem Mitte-rechts-Spektrum zugeordnet wird, den rechten Kandidaten „Tuto“ um über zehn Prozentpunkte geschlagen und muss probieren, Inflation, Armut und die Lücken im Haushalt zu überwinden. Beispielsweise gilt es, Gebrauch vom weltweit größten Lithiumvorkommen zu machen. Eins der größten Probleme hier, welches hier auch kurz vor der Wahl nochmal sichtbar geworden ist, ist der Treibstoffmangel: Hundert Meter lange Autoschlangen haben sich durch die Stadt geschlängelt, um an Benzin zu kommen, was sie mehrere Stunden gekostet haben könnte. Auch LKWs sind davon stark betroffen, was Versorgungsengpässe nach sich zieht.

In Santa Cruz lag der Stimmenanteil beim rechtsgerichteten Kandidaten Tuto übrigens bei circa 62 %, was daran liegen könnte, dass das Departamento von einer vergleichsweise wohlhabenden Bevölkerung bewohnt ist, welche sich an frei-wirtschaftlichen Wahlversprechen orientiert haben dürfte.

Bolivien ist eines der ärmsten Länder Südamerikas und liegt vom Entwicklungsstand zwischen einem Entwicklungsland und einem Schwellenland.
Auf herrschende, strukturelle Probleme in Bolivien weist der Abschnitt der „Bundeszentrale für politische Bildung“ (kurz „bpb“) eines Online-Beitrags zur Wahl hin:

„Die Bertelsmann Stiftung (BTI) stuft Bolivien als „defekte Demokratie“ ein, die Zeitschrift The Economist als „hybrides Regime“ zwischen Demokratie und Autokratie. Die Menschenrechtsorganisation Freedom House schätzt das Land in Bezug auf politische Rechte und bürgerliche Freiheiten nur als „teilweise frei“ ein. Auch die Medienfreiheit gilt als eingeschränkt: Beim Länder-Ranking von Reporter ohne Grenzen liegt das Land auf Platz 93 von 180.“

Ein weiteres großes Problem im Land ist die herrschende Korruption, weshalb Bolivien im Corruption Perception Index auf Platz 133 von 180 steht, was sich in vielen anderen Problemen widerspiegelt.

Jetzt noch etwas Lobenswertes: Ein politischer Begriff, welcher mir bei der Recherche ins Auge gefallen ist, ist die Bezeichnung plurinationaler Staat. Seit 2009 bezeichnet sich Bolivien als plurinationaler Staat und erkennt neben Spanisch 36 weitere indigene Sprachen als Landessprachen an, wie zum Beispiel Quechua und Aymara. Außerdem gilt Bolivien im Bereich der Anerkennung indigener Rechte als Vorreiter.

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Abschnitt 2:

Zurück zum Alltag: Seit zwei Wochen begebe ich mich Montags-, Mittwochs- und Freitagvormittags in die Innenstadt, um dort einem Basketballtraining beizuwohnen. An den anderen Vormittagen vertreibe ich mir die Zeit anders, etwa indem ich auf Märkte gehe oder neue Ecken der Stadt erkunde; die Stadt hat nämlich schon viel zu bieten.

Wenn ich dann um 13.30 Uhr das Hogar betrete, breitet sich bei mir Woche für Woche ein immer familiäreres und wohligeres Gefühl aus. Nachdem ich dann einmal alle begrüßt habe, beginnen die Schulaufgaben, bei welchen ich in letzter Zeit immer mehr um Hilfe gebeten wurde. Gerade Präsentationsblätter oder Bilder für die Jungs auszudrucken gehört immer öfter zu meinen Aufgaben. Sonst ist mein Handy immer sehr beliebt, um Recherchearbeiten zu erledigen. Die Betreuer, welche zum Teil auch selbst einen Teil ihrer Vergangenheit im Hogar verbracht haben, helfen den Jungs nur bedingt bei ihren Aufgaben, was bei mir des Öfteren Unverständnis hervorruft. Das Lösen der Aufgaben wird außerdem dadurch erschwert, dass jeweils 24 Jugendliche sich ein Klassenzimmer teilen und sich die Lustlosigkeit an manchen Tagen wie ein Virus unter den Jungs verbreitet. Im Großen und Ganzen funktioniert das Lernen aber ganz gut und mir bereitet es immer wieder Freude, wenn die Jungs ein neues Plakat fertigstellen oder sie sich erfolgreich dem Bruchrechnen gewidmet haben.

Bei Gesprächen mit den Jungs habe ich neulich erfahren, dass viele von ihnen planen, nach Europa zu kommen, um dort nach Arbeit zu suchen. Gerade von den Älteren gibt es Einzelne, die deswegen auch ihre Englisch- oder sogar Deutschkenntnisse erweitern wollen. Wie viele dann wirklich den Weg einschlagen, bleibt abzuwarten.

Montags- und Mittwochnachmittags begleite ich dann eine Gruppe von ca. sechs Jungs zum Leichtathletik-Training am Rande der Stadt. Mitkommen können alle, die Lust und gute Noten haben, um sich dann dort eineinhalb Stunden auszupowern. Neulich waren auch drei Jungs bei ihrem ersten Training. Das klingt jetzt erstmal nicht besonders, aber für sie war das Micro-Fahren dorthin sowie das Training an sich mit viel Freude gefüllt, da sie wahrscheinlich sonst ihre Zeit nur in der Schule oder eben im Hogar verbringen und für sie deshalb das Training für Abwechslung gesorgt hat. Während die Jungs trainieren, lese ich etwas oder bin einfach am Handy, was natürlich so einen Arbeitstag schon erleichtert.

Am Wochenende, also Samstag und Sonntag (für mich Montag und Dienstag), langweilen sich die Jungs zu großen Teilen. Es gibt an beiden Vormittagen einen Gottesdienst, den die Kids alle besuchen müssen und in dem ein paar auch in Form von Messdienern mitwirken. Am Samstagnachmittag geht es dann für die Kinder vom Mano Amiga, dem Techo und eben auch vom Hogar ins Schwimmbad, das sich zwischen dem Hogar und unserem Haus befindet, also zwei Minuten zu Fuß entfernt ist. Abends, nach dem Schwimmen und weiteren sportlichen Aktivitäten, beten wir dann um 18 Uhr den Rosenkranz. Bei dieser Prozedur wird der Heiligen Maria über 20 Minuten mit dem Aufsagen von einem auswendig gelernten und sich wiederholenden Text gedankt. Der Mehrheit fällt es schwer, sich hierbei zu konzentrieren und sich nicht ablenken zu lassen oder einzuschlafen, aber dieses Ritual wird eben schon seit sehr langer Zeit aufrechterhalten und soll den Jungs die christliche Religion näherbringen. Es wird außerdem vor und nach jeder Mahlzeit gebetet. Die Sonntage sind nochmal deutlich monotoner als die Samstage, da sich die Zeit quasi nur mit Filme schauen und Sport machen vertrieben wird. Außerdem bekommen die paar Jungs, die eins haben, ihr Handy. Gerade sonntags spiele ich sehr viel Uno oder auch andere Kartenspiele, um mir gemeinsam mit den Jungs die Langeweile zu vertreiben. Vor Allem mit den Jungs aus der mittleren Altersgruppe kann ich dadurch neue Verbindungen aufbauen und sie besser kennenlernen.

Generell merke ich, wie gut ich mittlerweile in die Arbeit reingekommen bin. Nicht nur, dass sie mir immer mehr Spaß macht, sondern auch die Beziehungen zu den Jungs sind immer vertrauter. Das zeigt sich in kleinen Gesten wie zum Beispiel einer kleinen Umarmung oder einem „Wie geht’s dir, Yannick? “ aber auch in größeren, wie der Frage eines Jugendlichen, ob ich nicht sein Patenonkel werden wolle, oder auch der einen oder anderen privateren Geschichte, welche mir erzählt wird. Ich hab das Gefühl, ich bin auf einem guten Weg, und das macht mich zurzeit sehr glücklich.


Rooftop-Bar
Ich, Nico, Alex (Volontär aus Ecuador), Victor, Mariana, Jorlens („neuer“ Volontär aus BaWü)

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Abschnitt 3:

Am 2. November, am „Día de los Muertos“, waren wir mit dem Hogar auf einem Friedhof, um ehemaligen (Jugendlichen) des Don-Bosco-Projektes zu gedenken. Hunderte Menschen haben sich auf den Friedhof gedrängt, welcher auch ganz anders aussah als die mir bekannten Friedhöfe in Deutschland: Statt der „üblichen“ Gräber gibt es hier kleine Häuser, in welchen die Leichname der Angehörigen einer Familie ruhen. Diese sind dann beispielsweise geschmückt mit Blumen. Gerade am Tag der Toten, bei dem viele Blumenverkäufer sich auch vor den Friedhöfen versammeln, werden die Gräber sehr schön dekoriert. Dann kommen viele Familien zusammen, um an verstorbene Familienmitglieder zu denken, ihnen Altäre mit ihren Lieblingsspeisen aufzubauen und einfach bei ihnen zu sein.

Nachdem wir, das Hogar Don Bosco, an frühere Verstorbene des HDBs in Form von einem Gottesdienst gedacht haben, bin ich mit einer kleinen Gruppe an Jungs losgezogen, um uns den Friedhof und die Atmosphäre zu verinnerlichen. Kurz darauf haben wir für komplett fremde Verstorbene gebetet und danach eine Tüte mit Backwaren und einen Becher Sprite in die Hand gedrückt bekommen. Was mir ziemlich unangenehm war, ist hier super normal. Menschen jeden Alters fragen andere Leute, ob sie für ihre Angehörigen beten können, um daraufhin eine kleine Speise oder ein Getränk zu bekommen. Die Kinder haben zufälligerweise den Gebetstext besonders schnell aufgesagt, um daraufhin mit großen Augen die Leckereien entgegenzunehmen. Ich habe das Gefühl, dass der Tag der Toten hier ein bisschen eine andere Art Halloween (welches hier kaum gefeiert wird) ist, welcher mit anderen, sehr schönen Vorsätzen gefeiert wird.


Das soll es jetzt aber auch gewesen sein.
Ich freue mich auf die nächsten Wochen und insbesondere auch auf den ersten Kurzurlaub nächste Woche. Es geht wandern…

Liebe Grüße,
Yannick