Mirupafshim Kosova!

Es ist November 2019. Mein Freiwilligendienst ist seit drei Monaten vorĂŒber, die neuen VoluntĂ€re haben ihren Dienst lĂ€ngst angetreten und letztes Wochenende war das Informationswochenende fĂŒr zukĂŒnftige VoluntĂ€re. (Man kann sich ĂŒbrigens noch bewerben!) Ich durfte dort meine Erfahrungen teilen und werde, soweit möglich, auch in weiteren Vorbereitungsseminaren dabei sein. Abgesehen davon hat aber ein neues Kapitel fĂŒr mich begonnen: Ich studiere jetzt Geographie und Soziologie. Mein Tagesablauf, meine Aufgaben, mein Umfeld – das alles hat sich verĂ€ndert. Es ist also Zeit, Abschied zu nehmen von diesem Blog. An dieser Stelle darf ich euch die Blogs meiner Nachfolgerinnen empfehlen: „KOSOWO SONST? – mein Freiwilligendienst im Kosovo“ von Veronika und „Mein Abenteuer im Kosovo“ von Hannah.

Bevor ich den Blog aber beende, möchte ich den Freiwilligendienst rekapitulieren.

Meine Zeit im Kosovo 



 war so vieles, dass es schwer in Worte zu fassen ist. Aber ich habe drei Stichworte, die das Wichtigste nennen:

Lehrreich: Ich bin angekommen, kannte weder Land noch Leute. NatĂŒlich hatte ich mich informiert. Ich wusste, dass der Kosovo hauptsĂ€chlich muslimisch geprĂ€gt ist, dass Serbien und Kosovo ĂŒber UnabhĂ€ngigkeit und LĂ€ndergrenzen streiten und der Krieg seine Spuren hinterlassen hat. Trotzdem ist es etwas völlig anderes, die Geschichten der Leute zu hören, ihre Kultur zu erleben und mit ihnen zu arbeiten. Es ist nicht das Fakten-Lernen, wie wir es in der Schule kennen, es ist eine ganz andere Art von Lernen. Zum Beispiel habe ich gelernt, gastfreundlicher und spontaner zu sein, zu geben ohne etwas zu erwarten, Chancen zu nutzen, wo sie gerade auftreten.

Bereichernd: Die Erinnerungen, die geschlossenen Freundschaften, das Gelernte, das sind Dinge, die mir viel wert sind. Und es sind Dinge, die mir nicht weggenommen werden können, die ich nicht verlieren kann. Das ist viel mehr wert als ein Jahr frĂŒher arbeiten und studieren.

Persönlichkeitsentwicklung: Vor dem Jahr kannte ich hauptsĂ€chlich die deutsche Kultur mit ihren Normen und Werten. Ohne etwas anderes zu kennen, ist es schwierig zu reflektieren. Nach diesem Jahr aber habe ich viel ĂŒber die kosovarisch-albanische Kultur gelernt und dadurch auch ĂŒber die deutsche. So ist mir klarer geworden, welche Werte mir besonders wichtig sind. Ich habe selbst das GefĂŒhl, mich in diesem einen Jahr mehr entwickelt zu haben als in den letzten drei Schuljahren. Das heißt nicht, dass ich jetzt einen ausgeschliffenen Lebensplan habe – im Gegenteil, ich habe noch so viele Möglichkeiten mehr entdeckt. Aber genau dieses Wissen ĂŒber die Möglichkeiten ermöglicht mir, zum gegebenen Zeitpunkt bewusst zu entscheiden.

Das war mein Freiwilligendienst fĂŒr mich.


 und die Zeit der anderen mit mir

Was hat er fĂŒr die Kinder und Jugendlichen, die anderen Don-Bosco-Mitarbeiter bedeutet?

Ganz oft habe ich gehört, dass ich sie inspiriert habe. Zuerst dachte ich: Wie, aber ihr habt doch mich inspiriert, mir so viel beigebracht! Aber es funktioniert in beide Richtungen: Indem ich ihre Handlungen in Frage stelle, weil ich sie schlicht nicht kenne, fangen auch sie an, darĂŒber nachzudenken. Wenn ich erzĂ€hle, wie ich es von mir daheim kenne und wir ĂŒber Vor- und Nachteile der jeweiligen Handelsweisen diskutieren, eröffnet es ihnen – und auch mir – eine ganz andere Breite an Handlungsmöglichkeiten, die sie vorher nie in ErwĂ€gung gezogen hĂ€tten. Es braucht also keine großen Aktionen, um positiv im GedĂ€chtnis zu bleiben. Vielmehr geht es darum, sich fĂŒr die Menschen und ihre Lebenswelt zu interessieren.

Über das Jahr hinweg und auch danach durfte ich sehr viel WertschĂ€tzung erfahren. Darunter gibt es Worte, an die erinnere ich mich besonders gerne. Deshalb zitiere ich sie hier fĂŒr euch, die Übersetzungen habe ich dabei mehr sinngemĂ€ĂŸ als wörtlich gehalten:

Ich bin da

„If you need me, I’m here.“ (Falls du mich brauchst, bin ich hier fĂŒr dich.) Das war ein Satz, den eine Freundin und SchĂŒlerin aus der damals elften Klasse gesagt hat. Er fiel nur so nebenbei, wie selbstverstĂ€ndlich, aber mir hat er so viel bedeutet, dass ich ihn groß in mein Tagebuch geschrieben habe. Es zeigt mir, dass ich ihr wichtig bin, dass ich es geschafft habe, mit ihr eine Beziehung aufzubauen und auch fĂŒr sie da zu sein. Das haben ihre Abschiedsworte bestĂ€tigt: „Thanks for giving me a lot of lessons and very very good memories. I love you too very much!“ (Vielen Dank dass du mir viel beigebracht hast und fĂŒr die sehr, sehr guten Erinnerungen. Ich habe dich auch sehr lieb!)

Von Herzen

Das nĂ€chste Zitat ist von einer Freundin und SchĂŒlerin, damals in der elften Klasse. Sie bezieht sich darauf, dass sie zu Beginn meines Freiwilligendienstes in einem MirĂ«mengjes (der Vollversammlung aller SchĂŒler/innen) alle aufforderte, dazu beizutragen, dass ich mich in Don Bosko Gjilan zuhause fĂŒhle. Ich hatte ihr nach meinem Freiwilligendienst eine Nachricht geschrieben und mich unter anderem dafĂŒr bedankt. Das ist ein Teil ihrer Antwort: „In that time, it was just a ‚beautiful‘ sentence, because I actually didn’t know you, but now that I do, it’s more than just a sentence and it makes sense more than it did that day.“ (In diesem Moment war es nur ein „schöner“ Satz, denn eigentlich kannte ich dich gar nicht; aber jetzt, da ich dich kenne, ist es mehr als nur ein Satz und es macht mehr Sinn als es an diesem Tag tat.“)

Außerdem schrieb sie mir, dass es gut fĂŒr sie war, mit mir Zeit zu verbringen, weil ich sie nocheinmal darĂŒber nachdenken ließ, was sie mit ihrem Leben machen will. Und ziemlich am Ende ihrer Nachricht las ich diese herzlichen Worte: „You will always have a special place in our heart“ (Du wirst immer einen speziellen Platz in unserem Herzen haben) und „We won’t forget you“ (Wir werden dich nicht vergessen).

Wie Familie

Besonders wichtig ist auch Jezuelas Freundschaft fĂŒr mich – und meine fĂŒr sie. Vor Kurzem schrieb sie mir: „You have no idea how much I need my lil sis here“ (Du weißt gar nicht, wie sehr ich meine kleine Schwester hier brauche). Sie nennt mich Schwester – das beschreibt unser VerhĂ€ltnis ziemlich gut. Wir haben sehr viel Zeit miteinander verbracht, haben miteinander gearbeitet und dabei – und davor und danach – ĂŒber Gott und die Welt geredet. Sie hat mir geholfen, wo immer nötig, und ich ihr. Jetzt bleiben wir ĂŒber WhatsApp in Kontakt und wenn irgendwann möglich, wollen wir uns wieder treffen. Auch mit anderen Animatoren bin ich ĂŒber WhatsApp in Kontakt.

NatĂŒrlich gab es von unserem Direktor Don Dominik eine Abschiedrede fĂŒr mich. Ein Satz ist mir dabei besonders hĂ€ngen geblieben: „You’re like a daughter to us.“ (Du bist wie eine Tochter fĂŒr uns.)

Und Don Bosko ist wie eine zweite Familie, ein zweites Zuhause fĂŒr mich.

Damit möchte ich Don Dominik, Don Oreste, Jezuela und allen anderen Mitarbeiter*innen, SchĂŒler*innen und Animator*innen danken fĂŒr die wundervolle Zeit, fĂŒr die mir trotz aller Wortgewandtheit ein bisschen die Worte fehlen. Ich werde diese Zeit nie vergessen!

Eure Bettina

So I want to thank Don Dominik, Don Oreste, Jezuela and all co-workers, students and animators for the wonderful time, that I can’t really put into words. I’ll never forget this time!

Yours, Bettina

Edhe tash me pak gjuhĂ« shqipe: Falemindert shumĂ« Don Dominik, Don Oreste, Jezuela edhe krejt tjerat per çdo kohĂ« e mrekullueshme. S’mundem harroj çdo kohĂ«! (MĂ« falni pĂ«r krejt gabim – e di, s’mundem mĂ« fal mirĂ«…)

Bettina

PS: Ja, bei der Veröffentlichung ist es bereits Dezember – das Studium nimmt mich in Beschlag und gut Ding will schließlich Weile haben 😉 Vielen Dank, liebe Leser*innen, dass ihr so lange durchgehalten habt; vielen Dank, dass ihr mich ĂŒber das Jahr hinweg begleitet habt! Falls ihr wissen wollt, warum ich ausgerechnet dieses Titelbild fĂŒr den Abschiedsbeitrag gewĂ€hlt habe, klickt euch in den vorigen Blog.

Mein Jahr in Bildern

Gjilan, Kosovo – zunĂ€chst nur fremd klingende Namen, eine Stadt und ein Staat von oben in Google Earth, als Wikipediaeintrag, eine Verheißung von spannenden Erfahrungen.
Das Praktikum in Belgien – ein kleiner Vorgeschmack auf Don Bosco.
Das ist also Don Bosko Gjilan, mein Zuhause und mein Arbeitsplatz fĂŒr ein Jahr.
Mein erstes Selfie mit Jezuela – wir waren sofort auf einer WellenlĂ€nge. Auch mit den Salesianern habe ich mich super verstanden!
Kampf dem MĂŒll!
Maylie – Thema Straßenhunde: Da prallen Welten aufeinander. Aber wir haben es geschafft, eine Lösung zu finden.
Weihnachten mit Jezuela und Gregor in Tirana.
Skopje – Zwischenstation auf dem Weg nach Serbien zum Zwischenseminar.
Mit Verena habe ich den Kosovo touristisch erkundet – hier in den Bergen bei Peja.
Mit den elften Klassen …
Meine Gruppe mit Don Dominik bei einer kleinen AuffĂŒhrung.
… mit einigen Animatoren in Tale.

Am Ende meines Freiwilligendienstes war eine Gruppe italienischer Animatoren da. Mit ihnen durfte ich auf AusflĂŒge in die Umgebung Gjilans gehen und noch ein paar schöne Fotos machen:

Das ist kein Friedhof, sondern eine GedenkstĂ€tte im Aufbau. Zwischen diesen idyllischen HĂŒgeln hat Krieg gewĂŒstet, denn sie liegen nahe der Grenze zu Serbien, sodass sie 1999 zu den als ersten betroffenen Regionen gehörten.
Blick vom Turm der Kathedrale aus ĂŒber Prishtina.

Wie der Sonnenuntergang zum Tag gehört, gehört der Abschied zum Freiwilligendienst. Von all den Umarmungen und herzlichen Worten habe ich keine Fotos, lieber habe ich diese Momente genossen und in mein Herz aufgenommen. Deshalb verabschiede ich das Jahr stattdessen mit diesem metaphorischen Foto:

Die letzten Tage im Kosovo – melancholisch schön wie ein Sonnenuntergang.

Am Meer

Heute will ich euch von einem besonderen Moment erzÀhlen. Jetzt gerade, wÀhrend ich das schreibe, bin ich auf Albanienfahrt mit der elften Klasse (wenn der Blog online geht, werden fast drei Wochen vergangen sein). Es ist kurz nach 23 Uhr. Bis vor wenigen Minuten hatte ich mich mit Don Dominik und einigen ElftklÀssler*innen am Strand aufgehalten.

Abendlicher Strandspaziergang

Wir waren vom Hotel aus an den Strand gegangen und hinter Don Dominik her ĂŒber etliche Felsen von StrĂ€ndchen zu StrĂ€ndchen geklettert. Hier zahlte sich meine Wander- und Klettererfahrung aus: Ich konnte einer UngeĂŒbten eine TĂŒte abnehmen und die Snacks darin sicher bis zu dem Strand bringen, an dem etliche Liegen sowie eine große, ins Wasser hineinragende Holzplattform standen. Wir kletterten auf die Plattform und setzten uns an den Rand. Manche ließen ihre FĂŒĂŸe ĂŒbers Wasser baumeln. Don Dominik forderte uns dazu auf, fĂŒnf Minuten ganz still zu sein und einfach nur das Gemeinsam-Sein zu genießen. Also hörten wir dem Rauschen der Wellen zu, betrachteten die Lichter, die schrĂ€g gegenĂŒber von der anderen Seite der Bucht herleuchteten. Hinter uns wurde leise in einem Restaurant Musik gespielt, geredet, gelacht und mit Geschirr geklappert.

Wie es wohl wÀre, jetzt mit der eigenen Familie oder mit Freunden dort oben im heimelig gelb leuchtenden Restaurant zu sitzen, zu essen, sich zu unterhalten und gemeinsam zu lachen? Wie wÀre es wohl, ganz alleine in der Bucht zu sein und im seicht schaukelnden Meer schwimmen zu gehen?

Wie ist es, einfach mal dazusitzen und gemeinsam zu genießen?

NatĂŒrlich, die GesprĂ€che, die ich den Tag ĂŒber gefĂŒhrt habe, waren meist sehr interessant und herzlich. Aber man muss nicht immer reden. Manchmal ist einfach nur gemeinsam existieren genau richtig.

Miteinander da sein…

Die fĂŒnf Minuten waren um. Don Dominik forderte uns auf, noch etwas zusammen zu rĂŒcken, dann wollte er uns noch etwas vorlesen. Er entschied sich letztendlich doch dagegen, denn es war recht kĂŒhl un den Text konnten wir auch zu Hause lesen. Stattdessen nahm er seine Gitarre zur Hand, die den Weg ĂŒber die vielen Felsen unbeschadet ĂŒberstanden hatte. Bevor er die Saiten zupfte, forderte er uns auf, noch einmal das Gemeinsam-Sein zu fĂŒhlen. Eine der SchĂŒlerinnen teilte ihre Regenjacke zum Draufsitzen mit mir, schrĂ€g vor ihr saß eine ihrer MitschĂŒlerinnen. Diese lehnte sich bald an sie und sie nahm ihre MitschĂŒlerin in den Arm. Nach einer Weile kehrten sie es um: Die MitschĂŒlerin nahm sie in den Arm.

Die ganze Zeit hĂ€tte ich mich am liebsten mit dazu gelehnt. Das ist nĂ€mlich etwas, das man schon manchmal vermisst: Einfach grundlos jemanden in den Arm nehmen. Zu Hause war das einfach: Da habe ich Mama ab und zu mal zwei Minuten geknuddelt. NatĂŒrlich bekomme ich hier auch Umarmungen. Jeden Morgen mehrere, denn ich werde jeden Morgen von etlichen SchĂŒler*innen herzlich begrĂŒĂŸt. Und ĂŒber den Tag verteilt kommt noch die eine oder andere Umarmung dazu. Und ich weiß, ich könnte Jezuela theoretisch jederzeit umarmen.Trotzdem tue ich es oft nicht. Es ist nicht so, dass ich es mir verbiete, ich denke nur einfach nicht daran. Erst in Sitationen wie diesen wird es mir bewusst.

Ich lehnte mich aber nicht gleich dazu. Denn ich wusste, dass die beiden befreundet waren und in diese Umarmung wahrscheinlich Emotionen aus verschiedenen Situationen mit hinein spielten, die die beiden gemeinsam durchgestanden hatten. Daher wollte ich nicht stören, die Äußerung der gegenseitigen WertschĂ€tzung nicht unterbrechen.

… und fĂŒreiander da sein

Aber nach einer Weile lehnte ich mich doch dazu. Die Hand der Umarmenden, die nun zwischen meinem Kopf und der Schulter der Umarmten klemmte, zog sich vorsichtig heraus und legte sich sanft auf meinen Kopf. Die Umarmte legte ihre Hand offen in die NĂ€he der meinen, als wolle sie anbieten, die meine zu halten. Das nahm ich gerne an.

So saßen wir ein Weilchen, dann rappelte sich die Umarmte zwischen uns langsam auf und stellte sich ein paar Schritte hinter uns auf die Plattform. Auch zwei andere hatten sich an die RĂ€nder der Plattform gestellt und guckten in die Weite.

Schließlich ließ Don Dominik das letzte Zupfen verklingen. Wir standen auf und machten uns wieder auf den Weg zurĂŒck zum Hotel. Und jetzt sitze ich hier, neben mir spielen drei SchĂŒlerinnen ein Brettspiel. Am Tisch vor mir hat sich der Großteil der Gruppe um Don Dominik versammelt. Sie singen gemeinsam, Don Dominik bringt nochmal seine Gitarre zum Klingen.

Momente wie diese

Derweil tippe ich mit kĂŒhlen Fingern auf meinem Handy herum, baue aus den Bildern in meinem Kopf SĂ€tze. Ich möchte unbedingt diesen Moment – oder eher dieses Weilchen – mit euch teilen. Dieses Ereignis hat mir, wie viele Momente in den vergangenen acht Monaten, gezeigt: Leute, denen man vertraut, sie einfach mal so umarmt, sich mit ihnen unterhĂ€lt, lacht und manchmal auch weint oder – wie in diesem Fall – einfach gemeinsam schweigt, mĂŒssen nicht Verwandte oder jahrelange Freunde sein. Es können auch Freunde sein, die man erst vor ein paar Wochen und Monaten kennengelernt hat, ĂŒber die man immer noch jede Menge zu erfahren hat. Es kann auch eine Fammilie sein, die zwar nicht blutsverwandt mit dir ist, dich aber wie ein Familienmitglied behandelt.

Liebe GrĂŒĂŸe und bis bald!

Eure Bettina

PS: Das Foto ist am nÀchsten Abend bei einem Stadtbummel in Saranda  entstanden.

Vom Beinahe-Fauxpas

Letztens war ich mit Jezuela und einem unserer Guards auf Besuch bei unserem verunfallten Mitarbeiter. Er liegt im Moment arbeitsunfĂ€hig zu Hause im Bett. Es war also ein Krankenbesuch. Wie man das eben so macht, bringt man natĂŒrlich etwas mit. Was ich nicht wusste, war, dass man zu einem Krankenbesuch ganz normale Nahrungsmittel mitbringt, also zum Beispiel SĂ€fte und etwas zu essen. Schokolade aber ist den Geburtstagen vorbehalten. Was hatte ich gekauft? NatĂŒrlich Schokolade! Denn bei uns bringt man doch typischerweise Schokolade mit, ein Saft wĂŒrde etwas verdutzt in Empfang genommen werden.

Jezuela hat es zum GlĂŒck noch frĂŒh genug gemerkt und hat mir gesagt, dass man zum Krankenbesuch keine Schokolade mitbringen kann. Ich war erstmal ziemlich verdutzt, aber es ist logisch: Wer hier krank ist, kann nicht arbeiten, kann also kein Geld verdienen um seine Existenz zu sichern. Im Gegensatz zu Deutschland gibt es eben keine Krankenversicherung. Daher ist ein Krankheitsfall existenzbedrohend – und das Einfachste, womit man helfen kann, sind richtige Lebensmittel.

Und was mache ich jetzt mit der Schokolade?

Nachdem wir das Haus des Verunfallten wieder verließen, war da also noch diese Schokolade in meiner Jackentasche. Jezuela und der Guard lehnten mein Angebot ab, sie gemeinsam zu verspeisen, deshalb hatte ich sie noch immer, als ich ins Taxi stieg, um zurĂŒck nach Don Bosco zu fahren. Der Taxifahrer konnte sogar Deutsch, da er eine Zeit lang im deutschsprachigen Raum gearbeitet hat. Er erzĂ€hlte mir, dass er damals Dachdecker war, aber hier jetzt als Taxifahrer arbeiten muss. Dank Jezuela weiß ich, dass die Taxifahrer hier sehr gering bezahlt werden und es kaum zum Überleben reicht. Also ließ ich ihn am Ende der Fahrt das Wechselgeld behalten.

Und dann war da ja noch die Schokolade, die ich eigentlich zum Verschenken gekauft hatte. Sie allein in meinem Zimmer essen wollte ich nicht und die Salesianer sind auch nicht sie grĂ¶ĂŸten Schokoladenfans. Also erklĂ€rte ich ihm kurzerhand, warum ich sie ĂŒbrig hatte und drĂŒckte sie ihm in die Hand. Er freute sich wahnsinnig – er hatte fĂŒnf Kinder und eine Frau zu Hause, denen er damit eine große Freude machen konnte. Aus lauter Dankbarkeit schrieb er die Nummer seines Taxis auf die Visitenkarte des Taxiunternehmens und gab sie mir. Wenn ich wiedereinmal ein Taxi brĂ€uchte, könne ich nach speziell diesem Taxi fragen und er wĂŒrde innerhalb von ein paar Minuten kommen, um mich zu fahren. Jetzt habe ich also quasi meinen persönlichen Taxifahrer. Und das dank einer Schokolade und ein bisschen Wechselgeld. Damit wĂ€ren wir wieder beim Thema meines vorherigen Beitrags: Kleine Gesten.

Ich hoffe, ich konnte euch mit dieser kleinen Geschichte erfreuen!

Liebe GrĂŒĂŸe, eure Bettina

Eine kleine Geste

Winterspiele

Hat euch auch schon einmal ein Kind damit ĂŒberrascht, wie es sich verhalten hat? Mich jedenfalls schon. WĂ€hrend der Winterspiele habe ich Folgendes erlebt:

Das Spieleprogramm war schon um. Ich verließ gerade die Aula und lief an einem kleinen MĂ€dchen vorbei, das Fotos an der Flurwand anschaute. Da die meisten Kinder jeden Tag kommen, sagte ich „Shihemi!“, also „Wir sehen uns!“, obwohl ich sie nicht wirklich kannte. Meine Hauptaufgabe ist es nĂ€mlich, Spiele vorzubereiten, wĂ€hrend des Spiels Punkte zu zĂ€hlen, nachher aufzurĂ€umen und mit anderen Animatoren vorzutanzen. Daher kenne ich die Kinder leider kaum. Das MĂ€dchen, etwa sieben oder acht Jahre alt, schien das nicht zu stören. ZunĂ€chst grĂŒĂŸte sie nur zurĂŒck, dann kam sie mir hinterher gerannt und fragte, ob ich gehen wĂŒrde. Dann umarmte sie mich fest fĂŒr ein Weilchen.

Eine einfache Umarmung, eigentlich eine AlltĂ€glichkeit – oder? Trotzdem war zumindest fĂŒr mich die Geste nicht so klein, wie sie erscheinen mag. Denn solche Gesten können einen Haufen WertschĂ€tzung ausdrĂŒcken. Und wahrscheinlich kennt das MĂ€dchen eine Bezeichnung fĂŒr dieses GefĂŒhl noch gar nicht, aber zeigen kann sie es trotzdem – mit so etwas Einfachem, völlig Kostenlosem wie einer Umarmung.

Das Spiel der Engel

Und noch etwas hat meine Aufmerksamkeit auf kleine Gesten gelenkt: Mit den Animatoren spielen wir seit Anfang Dezember ein Spiel, das mir Jezuela als „Game of the Angels“, also „Spiel der Engel“, ĂŒbersetzt hat. Zu Beginn wird der Name jedes Teilnehmers auf kleine Zettelchen geschrieben. Dann zieht jeder einen Zettel. FĂŒr die Person, die man gezogen hat, ist man nun der Engel. Das heißt, man lĂ€sst ihr immer wieder anonym einen Brief oder eine Kleinigkeit zukommen. DafĂŒr steht im Sektretariat eine Box, in die die Briefe und Geschenkchen gelegt werden.

Ich habe sehr schöne Briefe bekommen und eines Tages, als in der Mittagspause Tee und GebĂ€ck verkauft wurde, um einen verunfallten Mitarbeiter finanziell zu unterstĂŒtzen, wurde mir ein Tee, ein KuchenstĂŒck, ein Muffin und noch ein GebĂ€ck von ein paar SchĂŒlerinnen zu mir gebracht, mit lieben GrĂŒĂŸen von meinem Engel. Das war eine schöne Überraschung.

Genauso viel Spaß macht es, kleine Dinge zu basteln und SprĂŒche oder Briefe zu schreiben (die mir Jezuela alle auf Albanisch ĂŒbersetzt hat, denn die EmpfĂ€ngerin spricht leider kaum Englisch – dankeschön, Jezuela!) und spĂ€ter mitzubekommen, wie sehr sich die EmpfĂ€ngerin darĂŒber freut.

Ich hoffe, euch inspirieren meine Erlebnisse dazu, selbst mal euer Herz in die Hand zu nehmen und Leuten zu zeigen, dass ihr sie wertschÀtzt, selbst wenn nicht gerade ihr Geburtstag ist.

Liebe GrĂŒĂŸe an alle daheim und vielen Dank, dass ihr mich unterstĂŒtzt!

Eure Bettina

Vor der Ausreise

Vor drei Monaten, im August, war ich mitten in den Ausreisevorbereitung – dazu gehört auch das Sich-Verabschieden. Wie war das eigentlich?

Vorbereitungen

Ich hatte zum GlĂŒck nicht so wahnsinnig viel vorzubereiten wie andere. Mein Praktikum in Belgien war schon vorĂŒber, ein Visum oder eine Aufenthaltsgenehmigung muss ich als Deutsche im Kosovo nicht im Vorhinein beantragen. FĂŒr die ersten 90 Tage meines Aufenthalts brauche ich keine behördlichen Erlaubnisse. Das ist im Vergleich zu beispielsweise den Indien-Reisenden eine große Erleichterung. So brauchte ich nur Reisepass, FĂŒhrungs- und Gesundheitszeugnis. Ein Bankkonto, mit dem ich im Kosovo Geld abheben konnte, musste ich auch eröffnen.

NatĂŒrlich brauchte ich Impfungen – aber nur wenige. Und meine WeisheitszĂ€hne mussten noch raus! Gut einen Monat vor der Ausreise, kein Problem, bis dahin ist alles lĂ€ngst verheilt! Von wegen… Zwei EntzĂŒndungen habe ich mir eingefangen. Hintereinander, an derselben Stelle. Ich musste bis zur Ausreise Antibiotika nehmen. Und eins ist mir bei all dem Chaos untergegangen: Ich muss die jĂ€hrliche Zahnkontrolle, die ich sonst im Dezember habe, schon vor der Ausreise machen! Zum GlĂŒck hat mich mein Zahnarzt ganz spontan noch einschieben können. So habe ich noch am Abflugtag dem Zahnarzt einen Besuch abgestattet. Zum GlĂŒck war alles in Ordnung.

Packen

Abgesehen von den medizinischen Vorbereitungen ging es also vor allem ums Packen. Wie ist das Klima im Kosovo? Was muss ich noch besorgen? Was kann ich ĂŒberhaupt mitnehmen? Wie soll ein Jahr Kleidung und sonstige Ausstattung in einen Koffer mit 23 Kilogramm, einem HandgepĂ€ck mit 8 Kilogramm sowie einer Laptoptasche passen? Wie soll ich ein bisschen Sommerkleidung und dicke, schwere Winterkleidung unterbringen?

Ihr könnt euch vorstellen, dass ich viel hin und her gepackt habe, Dinge von meiner Liste streichen musste – meine geliebten Veggi-GummibĂ€rchen! – nur um dann am Flughafen festzustellen, dass das GepĂ€ck nicht gewogen wird und ich nicht auf 100 Gramm genau hĂ€tte packen mĂŒssen. Die GummibĂ€rchen wĂ€ren schon noch reingegangen… Tja, lieber fehlen die GummibĂ€rchen als warme Socken. Die brauche ich hier fĂŒr die kommenden sechs Monate jeden einzelnen Tag.

Sich verabschieden …

Manchmal habe ich nicht einmal gewusst, dass ich diese Person nun ein letztes Mal treffen wĂŒrde – oder anders herum, ich wusste nicht, dass ich sie nocheinmal sehen wĂŒrde. Manchmal macht das den Abschied sogar leichter, wenn man nicht ganz klar sagen muss: „TschĂŒss, das ist das letzte Mal fĂŒr ein Jahr, dass wir uns treffen.“

Aber bei meinen engsten Freundinnen war ich ganz froh, dass ich sie entweder einzeln oder in einer Gruppe nocheinmal gesehen habe und mich ganz bewusst in Ruhe verabschieden konnte. Und ich wage, die These aufzustellen, dass solche Abschiede Freundschaften stĂ€rken können. Es ist nĂ€mlich schön, zu hören, dass die Freundin keine Angst vor diesem Abschied hat, weil sie glaubt, dass wir immer noch dieselbe Freundschaft haben werden, wenn ich wieder zurĂŒck komme. Vor allem, wenn ich mir selbst genauso sicher bin.

Ein paar der Geschenke – Wörter sind ganz offensichtlich wichtig in meinem Leben. 😉

Ich habe auch wunderbare Geschenke bekommen: Kreativ gestaltete TagebĂŒcher, NotizbĂŒcher, kleine Spruchkalender, selbstgemachte Stoffkisten, Schokolade, GummibĂ€rchen, Karten und Briefe.

… auch von meiner Familie

Ganz oft wurde ich gefragt, wie denn meine Eltern dem Abschied und dem Auslandsjahr entgegensehen. Ich durfte damit ĂŒberraschen, dass meine Eltern keine Angst vor dem Abschied haben und auch nicht allzu traurig sind, dass ich weg bin. Warum? Weil sie sehen, dass sie mich zu einer eigenstĂ€ndigen, freien Frau großgezogen haben, die die Welt sehen will. Die in sich selbst vertraut. Die ihre Augen dafĂŒr öffnet, wie andere Menschen leben.

Und vor allem, weil sie fĂŒhlen: RĂ€umliche Distanz bedeutet nicht automatisch seelische Distanz. Auch wenn wir ĂŒber 1000 Kilometer weg sind, lieben wir, eine fĂŒnfköpfige Familie, uns und teilen unsere Leben miteinander – moderne Technik macht es einfacher. In unserem Familienchat landen fast tĂ€glich Bilder, kleine Geschichten, die wir erlebt haben, und „Gute Nacht, hab euch lieb!“-GrĂŒĂŸe. (Und natĂŒrlich hilft es, dass die große Schwester auch schon mal ein Jahr mit Don Bosco weg war – in Indien.)

FĂŒr mich war der Abschied also alles in allem keine schmerzliche, sondern eine herzliche Erfahrung. NatĂŒrlich ist die ein oder andere TrĂ€ne geflossen, aber ich habe nicht gelitten. Selbst am Flughafen hatten alle ein LĂ€cheln auf dem Gesicht. Auch jetzt habe ich kein quĂ€lendes Heimweh. Ich liebe meine Familie und meine Freunde, manchmal hĂ€tte ich sie wirklich gerne hier, damit sie dasselbe sehen und erleben können wie ich. Aber zugleich möchte ich meine eigenen Erfahrungen machen, Neues sehen. Zum GlĂŒck bekomme ich per WhatsApp Fotos und Nachrichten, der Videochat ist eine wunderbare Erfindung – und das Bloggen auch. Mit all diesen Möglichkeiten kann ich das Wichtigste mit euch teilen.

Auch nĂ€chstes Wochenende lasse ich euch wieder an meinen Erfahrungen hier teilhaben – wahrscheinlich wird’s um meinen neuen besten Freund, den HeizlĂŒfter, gehen.

Bis dahin! Ganz herzliche GrĂŒĂŸe an alle,

Eure Bettina

Woher sind die zwei Szenen?

Falls ihr meinen letzten Beitrag noch nicht gelesen habt: Den solltet ihr fĂŒr ein besseres VerstĂ€ndnis unbedingt vor diesem Text lesen!

Schlaf gut

Die erste Inspiration stammt aus Gjilan, Kosovo. Wir waren spĂ€tabends auf dem Heimweg von Tirana, Albanien, und fuhren durch die Partymeile Gjilans. Da habe ich im Vorbeifahren die Frau mit ihrem Kind gesehen – so wie ich sie beschrieben habe. Ich kann natĂŒrlich nicht sicher sagen, ob die Beiden obdachlos sind, aber ich kann mir sonst keinen Grund vorstellen, dort mit Kind im Arm zu sitzen. Aber ich habe sie nur einige Sekunden gesehen, ich könnte also durchaus falsch liegen mit meiner Vermutung. Ansonsten habe ich im Kosovo bisher keine offensichtlich Obdachlose gesehen.

Dennoch gibt es viele Bettler, auch Kinder. Sowohl in Prishtina als auch in Tirana habe ich Kinder gesehen, die an roten Ampeln fĂŒr Geld Autoscheiben geputzt haben. An meinem zweiten Tag im Kosovo sind wir fĂŒr eine Messe – das Fest der Mutter Teresa – nach Prishtina gefahren. Nach der Messe haben Jezuela und ich in einem StraßencafĂ© gegessen. WĂ€hrend wir dort unsere großen Portionen Burek – ein leckeres traditionelles Gericht – aßen, kamen zwei etwa elf- und achtjĂ€hrige MĂ€dchen zu uns. Die Kleinere der beiden bettelte um etwas – ich weiß nicht worum, vermutlich Geld. Jezuela bot ihr jedenfalls etwas von ihrem Essen an, nicht aber Geld. Sie nahm gerne etwas an. Dem anderen MĂ€dchen, das sich auf der anderen Seite des Tisches mit etwas Abstand hingestellt hatte, bot ich daraufhin ebenfalls etwas an – sie sollte doch nicht leer ausgehen. Burek wollte sie nicht, aber eine Orangenscheibe lies sie sich gerne schmecken.

ZurĂŒck zur Obdachlosigkeit: Ich nehme an, dass es wenige Obdachlose gibt, weil hier der Familienzusammenhalt recht gut zu sein scheint. Trotzdem kann es fĂŒr eine Familie schnell das finanzielle Aus bedeuten, wenn der ErnĂ€hrer stirbt. Hier gibt es nĂ€mlich kein soziales staatliches System, dass Menschen in Not auffĂ€ngt, wie wir es in Deutschland haben (aber selbst unser System hat LĂŒcken). Deshalb ist hier SolidaritĂ€t innerhalb der Verwandtschaft sehr wichtig.

Wo wir beim Thema Leben auf der Straße sind: Straßenhunde gibt es viele, sowohl im Kosovo als auch in Albanien. Diesen hier habe ich in einer Stadt in Albanien fotografiert, mitten in der FußgĂ€ngerzone. Er sieht noch relativ gesund aus, dafĂŒr, dass er auf der Straße lebt. Ich habe aber auch schon einen Hunde gesehen, die nicht nur ein bisschen zottelig und dreckig sind, sondern sichtbar unter dem Straßenleben leiden.

Wie ein Monster

Die zweite Inspiration trage ich seit meinem Besuch in Hamburg in meinem Kopf. Das war im Sommer 2017, als ich mit fĂŒnf Freundinnen einen Kurzurlaub in der Hansestadt gemacht habe. Dort bestaunte ich nicht nur die wunderschöne Elbphilharmonie – ich habe auch die Obdachlosen gesehen. An jedem Tag, in fast jeder U-Bahnstation, in vielen Straßen. Ich als Landei aus bayerischer Provinz bin den Anblick von armen, verwahrlosten Menschen nicht gewöhnt – ich hoffe, ich werde mich auch nie daran gewöhnen, selbst wenn ich hundert Jahre lang in einer Großstadt wohnen sollte.

Aber wir alle, die gesamte Gesellschaft, denken wir noch an sie? Oder haben wir uns schon an ihrem Anblick gewöhnt? Sehen wir die LĂŒcken im System, durch die diese Menschen gefallen sind? Oder glauben wir, dass es ihnen nicht so ergehen wĂŒrde, hĂ€tten sie sich nur etwas mehr angestrengt? Sagen wir „ihr Problem“ und gehen weiter? Oder versuchen wir, solidarisch zu sein mit Fremden? Wie viel von unserer – zumindest von einigen deutschen Politikern – viel beschworenen christlichen Leitkultur steckt in unserem alltĂ€glichen Handeln?

Jetzt kommt der Teil fĂŒr die Christen unter euch: In Lukas 10, 25 – 37 wird Jesus von einem Gesetzeslehrer gefragt: Wer ist mein NĂ€chster? Und diese Frage mĂŒssen wir uns auch stellen, wenn wir davon sprechen, unseren NĂ€chsten lieben zu wollen. Jesus jedenfalls erzĂ€hlt ihm auf diese Frage das Gleichnis des barmherzigen Samariters. Die Schlussfolgerung darauf: Der, dem du gerade begegnest, dem du mit deinem Herzen in der Hand entgegentrittst, ist dein NĂ€chster.

FĂŒr alle Nicht-Christen (aber natĂŒrlich auch fĂŒr Christen):

Wollen wir als EinzelkÀmpfer leben? Oder wollen wir geben und nehmen?

Wollen wir, dass die einen im Überfluss leben, wĂ€hrend die anderen leiden? Oder wollen wir gemeinsam unsere Leben meistern? Auch wenn es bedeutet, dass man meist weniger Geld hat, als man haben könnte, man dafĂŒr aber in Notsituationen genug Geld fĂŒr ein wĂŒrdiges Leben bekommt?

Hundert Mal zehn Cent sind zehn Euro

Ich möchte euch alle dazu aufrufen, jeden einzelnen Tag zu ĂŒberlegen, wo ihr helfen könnt – es muss ja nicht so groß sein. Und es muss ja auch nicht gleich der nĂ€chste Obdachlose sein, der euch begegnet. Schon wenn jeder jeden Tages etwas Kleines tut, kommt einiges zusammen: Hundert Mal zehn Cent sind zehn Euro – oder hundert Mal eine scheinbar kleine Tat sind summiert eine grĂ¶ĂŸere Tat.

Ich weiß, manche von euch denken jetzt, die hat leicht reden, sie macht einen Freiwilligendienst, ein ganzes Jahr nur fĂŒr andere! Aber der Freiwilligendienst bringt nicht nur den Leuten hier etwas, er bringt auch mir etwas: Ich darf ein Jahr im Ausland leben, eine neue Kultur und neue Menschen kennenlernen. Ganz zu Schweigen davon, dass man mir so einen Freiwilligendienst bei meiner Jobsuche wahrscheinlich positiv angerechnen wird (womit leider viele Unternehmen, die kommerziell Freiwilligenarbeit vermitteln, Werbung machen). Und selbst wenn es so eine große Sache wĂ€re – besser geht immer. Auch ich bin kein Engel, auch ich muss mir in die ein oder andere Situation vorwerfen, in der ich nicht geholfen habe, obwohl es so einfach gewesen wĂ€re. Lasst uns also gemeinsam den Mut haben, mehr zu tun!

Liebe GrĂŒĂŸe! Eure Bettina

 

PS: Sollte euch das anregen, gleich sofort was zu tun – hier geht’s direkt zum Spenden. Und ihr dĂŒrft gerne kommentieren oder mir anderweitig schreiben, ob ihr diese Antworten erwartet habt.

Zwei Szenen

Heute berichte ich nichts. Stattdessen habe ich euch zwei kleine Texte aufgeschrieben. Die folgen Szenen basieren auf wahren Erlebnissen und Wahrnehmungen.

 

Schlaf gut

Der kleine Junge gÀhnte.

„Komm her.“ Seine Mutter zog ihn nĂ€her zu sich.

Er kuschelte sich an sie, zog die Beine an. Zusammengekauert wie ein Embryo lag er in ihrem Schoß, schmiegte sich in ihre Arme. In Gedanken versunken starrte er vor sich hin. Die ausgestreckten Beine seiner Mutter, ihre staubige Hose, an ihren FĂŒĂŸen schmutzige Gummischuhe. Dahinter passierten elegante Ballerinas, blank geputzte Lederschuhe, Highheels.

Er zÀhlte sie wie Schafe. Bis ihm die Augen zufielen.

Seine Mutter spĂŒrte ihn schwer werden in ihren Armen. Sie seufzte, aber es war nicht zu hören. Zu laut der Beat der Tanzmusik des Lokals hinter ihr. Zu laut die Menschenmasse, von der sie nur durch eine hĂŒfthohe Mauer getrennt war. FĂŒr ihren Sohn war die Tanzmusik lĂ€ngst zur Schlafmusik geworden.

FĂŒr Sie? Die Musik war Teil einer Welt, zu der sie keinen Zutritt hatte. Sie konnte diese Welt hören, sie konnte sie sehen. Aber niemals an ihr teilnehmen. Sie saß nur direkt davor. Nicht einmal einen Meter entfernt – aber dieser eine Meter war unĂŒberwindbar.

 

Wie ein Monster

„Kann mir denn niemand wenigstens einen Euro geben!“ Die Frau war frustriert. Ihre lĂ€ngst nicht mehr weiße MĂŒtze saß auf dĂŒnnen Haaren, die in ein gegerbtes Gesicht fielen. Sie schaute in die Gesichter all dieser Bahnfahrenden. Die einen schauten zu Boden, die anderen wagten einen Blick, sahen sogleich wieder weg und doch wieder hin. Mancher fingerte nervös oder verzweifelt am Saum seines Ärmels. Sie sah vieles: GleichgĂŒltigkeit ebenso wie Mitleid. Als wĂ€re sie ein Nichts. Angst und Ekel. Als wĂ€re sie ein Monster.

Und sie wusste, keiner wollte sie sehen. Nicht einmal sie selbst. Sie brauchte keinen Spiegel, um zu wissen, wie sie aussah. Sie fĂŒhlte es. Die alten Klamotten, die Hose zerissen, darunter eine frische Wunde. Sie hatte sich an Dornen im GebĂŒsch neben der Bahnstation verletzt, als sie ihre Schlafnische verlassen wollte. Dreck haftete wie eine Staubschicht an ihrem ganzen Körper, hatte sie sich doch lange nicht mehr waschen können. Eines ihrer Augen war dunkel geschwollen, deswegen sah sie halbseitig nur unklar. Aber immernoch genug, um zu erkennen, dass hier wohl nichts zu holen war, zumal gerade die Bahn einfuhr. Ganz offensichtlich erleichtert, den zugigen, dreckigen Bahnsteig verlassen zu können, eilten die Wartenden in die Bahn. Die TĂŒren schlossen sich, die Menschen brausten hinweg und ließen die Frau auf dem einsam grauen, trist gefliesten Betonklotz stehen.

 

Woher kommen diese EindrĂŒcke?

Nur eine der beiden Inspirationen fĂŒr diese Texte stammt aus dem Kosovo. Welche hat nicht hier stattgefunden und wo habe ich sie stattdessen gesehen? (Als kleine Hilfe: Ich war bisher in Österreich, Italien, Kroatien, Frankreich – und der dazugehörigen Insel Île de la RĂ©union, die neben Madagaskar liegt –, außerdem natĂŒrlich Deutschland und vor Kurzem das erste Mal in Albanien. Aus Albanien stammt auch das Bild zu Beginn des Beitrags: Ein Kind bereitet seine Utensilien zum Autoschweibenputzen her.)

Wenn ihr möchtet, könnt ihr eure Gedanken in die Kommentare schreiben oder mich anderweitig kontaktieren. Die Lösung werde ich in einer Woche veröffentlichen. Außerdem darf ich euch bereits einen Beitrag ĂŒber meine bisherigen Albanienbesuche in Aussicht stellen.

Bis dahin! Eure Bettina

Es gab Momente, die waren besonders

Das Praktikum in Belgien war eine besondere Erfahrung fĂŒr mich. Davon bleiben natĂŒrlich einige Momente hĂ€ngen. Ich habe hier ein paar kleine Erinnerungen fĂŒr euch an Situationen, die besonders schön, stressig, lustig, herausfordernd oder anerkennend waren.


 anerkennend

In der ersten Woche, als ich bei den etwa Sieben- bis ZwölfjĂ€hrigen in der Gruppe war, haben sich zwei Schwestern hauptsĂ€chlich an mich gewandt, egal was war. Sie konnten beide nur Französisch und hatten an zwischendurch Streit. Ich habe ihnen beiden zugehört und versucht zu erklĂ€ren, was die GrĂŒnde fĂŒr die Reaktion der jeweiligen Schwester sein könnten. Dadurch hat sich der Streit allmĂ€hlich gelegt. Das mag nun nicht gerade als besondere Anerkennung erscheinen, hat sich doch keine der Beiden groß dafĂŒr bedankt. Und trotzdem fĂŒhlt es sich so an, weil ich weiß, ich habe da einiges an Geduld und Zeit reingesteckt – und etwas erreicht: Die JĂŒngere hat verstanden, dass die Älltere manchmal etwas alleine machen möchte, sie aber trotzdem noch lieb hat. Und die Ältere hat verstanden, dass die JĂŒngere frustriert ist, weil sie sich unbeachtet fĂŒhlt, und deshalb mit allen Mitteln ihre Aufmerksamkeit sucht.

Eine zweite Anerkennung war, als unser Playground-Leiter Maria und mir sagte, wir wĂŒrden seine Erwartungen weit ĂŒbertreffen.

Eine dritte Anerkennung war, dass uns die anderen Betreuer selbstverstĂ€ndlich in ihre Clique aufgenommen haben. Sie haben uns in ihre GesprĂ€che eingebunden, haben viel mit uns gequatscht, obwohl natĂŒrlich immer wieder hin und her ĂŒbersetzt werden musste.


 stressig

In der ersten Woche war ich auch einen Nachmittag bei den Kleinen, weil die Betreuer krankheitsbedingt nur noch zu zweit waren. An diesem Tag haben wir Wasserspiele gemacht, also mussten sich die Kids zwei Mal umziehen – ein ziemliches Chaos. So stand ich also im SanitĂ€rraum der Jungs und alle wollten sich gleichzeitig auf den Toiletten umziehen. Der eine brauchte Hilfe beim Anziehen, der zweite konnte seine Schuhe nicht binden, der dritte fand seine Klamotten nicht mehr… Und zu allem Überfluss hat sich einer der Kleinsten nach seinem großen GeschĂ€ft nicht abgeputzt und hat den Boden dreckig gemacht, als er sich zum Anziehen hinsetzte. Da hieß es PrioritĂ€ten setzen und die weniger dringenden FĂ€lle auf spĂ€ter zu vertrösten oder anzuspornen, es doch ersteinmal selbst zu versuchen. Das war stressig, aber lehrreich. Zum GlĂŒck hatten wir ansonsten meist kein Problem damit, zu wenig Betreuer zu haben.


 lustig

Wir haben gemeinsam mit den anderen Betreuern in dem Institut ĂŒbernachtet, von Sonntagabend bis Freitagnachmittag. Da wĂ€chst man natĂŒrlich ein bisschen zusammen, schließlich macht man in der Woche alles gemeinsam, von der Betreuung ĂŒber die Vorbereitung bis hin zu abendlichen Spiele- und Ratschrunden.

An einem der Abende sind wir auf den Hof raus gegangen, wo wir sonst auch mit den Kindern waren, und haben Kubb (auch unter Wikingerschach und Ă€hnlichen Namen bekannt) gespielt. Dabei gab es eine ziemlich witzige Zusatzregel: Die umzuwerfenden Holzklötze hatten verschiedene Farben, denen bestimmte Handicaps zugeordnet waren. Wurde also ein Holzklotz umgeworfen, musste die Mannschaft, der der Klotz gehörte, zum Beispiel in dramatischer Slowmotion werfen. Oder rĂŒckwĂ€rts zwischen den Beinen hindurch oder einĂ€ugig oder zu zweit. Kombinationen sind ebenfalls herzlich willkommen! Und ja, es sieht sehr witzig aus, wenn jemand rĂŒckwĂ€rts am Spielfeldrand steht, sich nach vorne beugt, einen Stock langsam hin- und herschwenkt, dabei von jemand Zweitem gelenkt wird und sich auch noch ein Auge zuhĂ€lt! Und wo der Stock am Ende landet, kann man sich vorstellen… 😀


 herausfordernd

Gegen Ende der zweiten Woche kannte ich auch die Kleinen etwas besser, weil ich die gesamte Woche bei ihnen verbracht hatte. Da haben wir nocheinmal Wasserspiele veranstaltet – was ziemlich witzig war, am Ende waren alle nass!

Das einzige Problem dabei war, dass sich einer der kleinen Jungs in die Hose pinkelte. (NatĂŒrlich hatten wir alle vorher auf die Toilette geschickt…) Also bin ich mit ihm zur Waschrinne im SanitĂ€rraum der Jungs gegangen. Die FĂŒĂŸe abwaschen war nicht schlimm, das fand er noch lustig. Aber als ich ihn dann in die Waschrinne setzen wollte, um ihm auch die Beine abzuwaschen, hat er angefangen, zu schreien und zu weinen und wollte wegrennen. Er war etwas wasserscheu und mochte höchstens ein bisschen in WasserpfĂŒtzen planschen. Ich versuchte ihm zu erklĂ€ren, warum ich ihn abwaschen wollte, aber er hörte mir nicht zu und ich hatte nicht die richtigen Worte, um es ihm ordentlich zu erklĂ€ren.

Zum GlĂŒck bekam Maria mit, dass ich ihn nicht beruhigen konnte und half mir. Von ihr hat er sich trösten lassen. Vermutlich weil sie erstens nichts mit dem Wasser zu tun hatte, zweitens ihn schon besser kannte und drittens besser Französisch sprach. Dann ließ er sich wenigsten grob mit dem Wasserschlauch abspritzen. Das reichte völlig aus.

In der Situation habe ich gemerkt, dass man selbst manchmal die Situation nicht so schnell lösen kann, weil man fĂŒr das Kind mit dem Unangenehmen verbunden ist – in dem Fall dem Wasser. ZusĂ€tzlich konnte ich ihm die Notwendigkeit nicht richtig erklĂ€ren und dass ich ihn ja gar nicht von oben bis unten nass machen wollte, sondern nur die Beine. Im Nachhinein denke ich, dass ich das Problem vielleicht mit viel Geduld hĂ€tte lösen können, wenn ich sofort mit ihm vom Wasserhahn weggegangen wĂ€re und ihm damit den Druck vom nahen Unangenehmen genommen hĂ€tte. Dann hĂ€tte er sich eher beruhigt.


 schön

Auch auf der RĂŒckfahrt von Halle war die Stimmung super. Im Hintergrund sieht man den Triumphbogen des Jubelparks (französisch: Parc du Cinquantenaire).

Ein Erlebnis, das mir wohl ewig im Kopf bleiben wird, war ein Abend in der ersten Woche mit den anderen Betreuern und dem Playground-Leiter. Wir wollten fĂŒr das Abendessen den Playground in Halle (französisch: Hal) besuchen. DafĂŒr haben wir einen neunsitzigen Bus genommen. Die Hinfahrt war wunderschön: Wir waren zwar alle etwas mĂŒde, aber gut gelaunt. Die Fenster waren offen. Der Wind ist sanft durch den Bus gefahren und hat die Hitze angenehm gemacht. Die Sonne stand schon tief, es lag ein warmes Orangerot ĂŒber Allem. Im Radio liefen schöne, mitsingbare Songs. Und fast jeder hat mitgesungen.

Das war ein echtes GefĂŒhl von Freiheit: Mit Freunden im Auto sitzen, singen und den Moment genießen.

NatĂŒrlich gab es noch so viele Momente mehr: Mein Geburtstag, gute GesprĂ€che mit anderen VolontĂ€ren, spĂ€tabends am Meer durch die Wellen springen (und sich dabei die Hose nass spritzen), Kinder trösten oder zum Lachen bringen, sie zum Nachdenken anzuregen und ihnen damit neue Erkenntnisse bringen… Man erfĂ€hrt in dieser Zeit Freundschaften, die innerhalb kĂŒrzester Zeit wachsen; gegenseitiges Vertrauen, obwohl man sich noch gar nicht so lange kennt.

Ihr seht, es gab schon in diesem kurzen Praktikum Momente, die schwierig waren und andere, die wunderschön waren. Ich werde euch im Laufe des Jahres sicherlich von einigen solchen Momenten erzÀhlen, die mir etwas bedeuten.

Bis dahin, eure Bettina