Mirupafshim Kosova!

Es ist November 2019. Mein Freiwilligendienst ist seit drei Monaten vorüber, die neuen Voluntäre haben ihren Dienst längst angetreten und letztes Wochenende war das Informationswochenende für zukünftige Voluntäre. (Man kann sich übrigens noch bewerben!) Ich durfte dort meine Erfahrungen teilen und werde, soweit möglich, auch in weiteren Vorbereitungsseminaren dabei sein. Abgesehen davon hat aber ein neues Kapitel für mich begonnen: Ich studiere jetzt Geographie und Soziologie. Mein Tagesablauf, meine Aufgaben, mein Umfeld – das alles hat sich verändert. Es ist also Zeit, Abschied zu nehmen von diesem Blog. An dieser Stelle darf ich euch die Blogs meiner Nachfolgerinnen empfehlen: „KOSOWO SONST? – mein Freiwilligendienst im Kosovo“ von Veronika und „Mein Abenteuer im Kosovo“ von Hannah.

Bevor ich den Blog aber beende, möchte ich den Freiwilligendienst rekapitulieren.

Meine Zeit im Kosovo …

… war so vieles, dass es schwer in Worte zu fassen ist. Aber ich habe drei Stichworte, die das Wichtigste nennen:

Lehrreich: Ich bin angekommen, kannte weder Land noch Leute. Natülich hatte ich mich informiert. Ich wusste, dass der Kosovo hauptsächlich muslimisch geprägt ist, dass Serbien und Kosovo über Unabhängigkeit und Ländergrenzen streiten und der Krieg seine Spuren hinterlassen hat. Trotzdem ist es etwas völlig anderes, die Geschichten der Leute zu hören, ihre Kultur zu erleben und mit ihnen zu arbeiten. Es ist nicht das Fakten-Lernen, wie wir es in der Schule kennen, es ist eine ganz andere Art von Lernen. Zum Beispiel habe ich gelernt, gastfreundlicher und spontaner zu sein, zu geben ohne etwas zu erwarten, Chancen zu nutzen, wo sie gerade auftreten.

Bereichernd: Die Erinnerungen, die geschlossenen Freundschaften, das Gelernte, das sind Dinge, die mir viel wert sind. Und es sind Dinge, die mir nicht weggenommen werden können, die ich nicht verlieren kann. Das ist viel mehr wert als ein Jahr früher arbeiten und studieren.

Persönlichkeitsentwicklung: Vor dem Jahr kannte ich hauptsächlich die deutsche Kultur mit ihren Normen und Werten. Ohne etwas anderes zu kennen, ist es schwierig zu reflektieren. Nach diesem Jahr aber habe ich viel über die kosovarisch-albanische Kultur gelernt und dadurch auch über die deutsche. So ist mir klarer geworden, welche Werte mir besonders wichtig sind. Ich habe selbst das Gefühl, mich in diesem einen Jahr mehr entwickelt zu haben als in den letzten drei Schuljahren. Das heißt nicht, dass ich jetzt einen ausgeschliffenen Lebensplan habe – im Gegenteil, ich habe noch so viele Möglichkeiten mehr entdeckt. Aber genau dieses Wissen über die Möglichkeiten ermöglicht mir, zum gegebenen Zeitpunkt bewusst zu entscheiden.

Das war mein Freiwilligendienst für mich.

… und die Zeit der anderen mit mir

Was hat er für die Kinder und Jugendlichen, die anderen Don-Bosco-Mitarbeiter bedeutet?

Ganz oft habe ich gehört, dass ich sie inspiriert habe. Zuerst dachte ich: Wie, aber ihr habt doch mich inspiriert, mir so viel beigebracht! Aber es funktioniert in beide Richtungen: Indem ich ihre Handlungen in Frage stelle, weil ich sie schlicht nicht kenne, fangen auch sie an, darüber nachzudenken. Wenn ich erzähle, wie ich es von mir daheim kenne und wir über Vor- und Nachteile der jeweiligen Handelsweisen diskutieren, eröffnet es ihnen – und auch mir – eine ganz andere Breite an Handlungsmöglichkeiten, die sie vorher nie in Erwägung gezogen hätten. Es braucht also keine großen Aktionen, um positiv im Gedächtnis zu bleiben. Vielmehr geht es darum, sich für die Menschen und ihre Lebenswelt zu interessieren.

Über das Jahr hinweg und auch danach durfte ich sehr viel Wertschätzung erfahren. Darunter gibt es Worte, an die erinnere ich mich besonders gerne. Deshalb zitiere ich sie hier für euch, die Übersetzungen habe ich dabei mehr sinngemäß als wörtlich gehalten:

Ich bin da

„If you need me, I’m here.“ (Falls du mich brauchst, bin ich hier für dich.) Das war ein Satz, den eine Freundin und Schülerin aus der damals elften Klasse gesagt hat. Er fiel nur so nebenbei, wie selbstverständlich, aber mir hat er so viel bedeutet, dass ich ihn groß in mein Tagebuch geschrieben habe. Es zeigt mir, dass ich ihr wichtig bin, dass ich es geschafft habe, mit ihr eine Beziehung aufzubauen und auch für sie da zu sein. Das haben ihre Abschiedsworte bestätigt: „Thanks for giving me a lot of lessons and very very good memories. I love you too very much!“ (Vielen Dank dass du mir viel beigebracht hast und für die sehr, sehr guten Erinnerungen. Ich habe dich auch sehr lieb!)

Von Herzen

Das nächste Zitat ist von einer Freundin und Schülerin, damals in der elften Klasse. Sie bezieht sich darauf, dass sie zu Beginn meines Freiwilligendienstes in einem Mirëmengjes (der Vollversammlung aller Schüler/innen) alle aufforderte, dazu beizutragen, dass ich mich in Don Bosko Gjilan zuhause fühle. Ich hatte ihr nach meinem Freiwilligendienst eine Nachricht geschrieben und mich unter anderem dafür bedankt. Das ist ein Teil ihrer Antwort: „In that time, it was just a ‚beautiful‘ sentence, because I actually didn’t know you, but now that I do, it’s more than just a sentence and it makes sense more than it did that day.“ (In diesem Moment war es nur ein „schöner“ Satz, denn eigentlich kannte ich dich gar nicht; aber jetzt, da ich dich kenne, ist es mehr als nur ein Satz und es macht mehr Sinn als es an diesem Tag tat.“)

Außerdem schrieb sie mir, dass es gut für sie war, mit mir Zeit zu verbringen, weil ich sie nocheinmal darüber nachdenken ließ, was sie mit ihrem Leben machen will. Und ziemlich am Ende ihrer Nachricht las ich diese herzlichen Worte: „You will always have a special place in our heart“ (Du wirst immer einen speziellen Platz in unserem Herzen haben) und „We won’t forget you“ (Wir werden dich nicht vergessen).

Wie Familie

Besonders wichtig ist auch Jezuelas Freundschaft für mich – und meine für sie. Vor Kurzem schrieb sie mir: „You have no idea how much I need my lil sis here“ (Du weißt gar nicht, wie sehr ich meine kleine Schwester hier brauche). Sie nennt mich Schwester – das beschreibt unser Verhältnis ziemlich gut. Wir haben sehr viel Zeit miteinander verbracht, haben miteinander gearbeitet und dabei – und davor und danach – über Gott und die Welt geredet. Sie hat mir geholfen, wo immer nötig, und ich ihr. Jetzt bleiben wir über WhatsApp in Kontakt und wenn irgendwann möglich, wollen wir uns wieder treffen. Auch mit anderen Animatoren bin ich über WhatsApp in Kontakt.

Natürlich gab es von unserem Direktor Don Dominik eine Abschiedrede für mich. Ein Satz ist mir dabei besonders hängen geblieben: „You’re like a daughter to us.“ (Du bist wie eine Tochter für uns.)

Und Don Bosko ist wie eine zweite Familie, ein zweites Zuhause für mich.

Damit möchte ich Don Dominik, Don Oreste, Jezuela und allen anderen Mitarbeiter*innen, Schüler*innen und Animator*innen danken für die wundervolle Zeit, für die mir trotz aller Wortgewandtheit ein bisschen die Worte fehlen. Ich werde diese Zeit nie vergessen!

Eure Bettina

So I want to thank Don Dominik, Don Oreste, Jezuela and all co-workers, students and animators for the wonderful time, that I can’t really put into words. I’ll never forget this time!

Yours, Bettina

Edhe tash me pak gjuhë shqipe: Falemindert shumë Don Dominik, Don Oreste, Jezuela edhe krejt tjerat per çdo kohë e mrekullueshme. S’mundem harroj çdo kohë! (Më falni për krejt gabim – e di, s’mundem më fal mirë…)

Bettina

PS: Ja, bei der Veröffentlichung ist es bereits Dezember – das Studium nimmt mich in Beschlag und gut Ding will schließlich Weile haben 😉 Vielen Dank, liebe Leser*innen, dass ihr so lange durchgehalten habt; vielen Dank, dass ihr mich über das Jahr hinweg begleitet habt! Falls ihr wissen wollt, warum ich ausgerechnet dieses Titelbild für den Abschiedsbeitrag gewählt habe, klickt euch in den vorigen Blog.

Von Katholiken in einem muslimischen Land

Wenn man so durch die Straßen läuft, sieht man es kaum, aber der Kosovo ist ein muslimisches Land. Das Einzige, was mir auffällt, ist, dass man eher eine Moschee als eine Kirche sieht und täglich Gebetsrufe durch die Stadt schallen.

Staat und Religion sind glücklicherweise getrennt, dennoch ist es alles andere als völlig egal, dass Don Bosko Gjilan eine katholische Organisation ist.

Wenn etwas passiert

Als Gjilan als Standort für eine Don Bosko Schule ausgewählt wurde, war den Bezirk nahezu hundertprozentig muslimisch. Entsprechend misstrauisch wurden die Salesianer damals also beäugt. Die Akzeptanz ist mit den Jahren gestiegen, da Don Bosko eine hochwertigere Bildung bietet als die staatlichen Schulen. Aber noch immer gibt es zahlreiche Leute, die die Schule am liebsten geschlossen sehen würden. Entsprechend wird, sobald etwas passiert, alles doppelt und dreifach inspiziert, ob man Don Bosko daraus nicht vielleicht einen Strick drehen könnte. Deshalb müssen die Salesianer hier sehr aufpassen, dass alles glatt läuft.

In Don Bosko

Unsere Animatoren sind größtenteils muslimisch. Einige Eltern sehen es sowieso schon nicht gerne, dass sie jedes Wochenende zu unseren Treffen kommen und in den Winter- und Sommerspielen helfen. Dabei reden wir bei unseren Treffen nicht über Religion – das Thema wird einzig dann angeschnitten, wenn wir über Don Bosco sprechen, der schließlich ein Priester war. Katechismusunterricht wie er in anderen Don Bosco Institutionen üblich ist, gibt es bei uns aber nicht, sonst könnte man unsere Animatoren ganz schnell nur noch an einer Hand abzählen.

Religionsunterricht gibt es nicht, nur Ethik. Mit den katholischen Schüler und Schülerinnen treffen wir uns jeden Mittwoch nach Schulschluss für einen Gottesdienst. Ansonsten spielt Religion keine Rolle.

Auf der Straße

Wenn ich in der Stadt unterwegs bin, kann ich meist nicht zuordnen, welcher Religion die anderen Passanten angehören. Hijabs und Kopftücher sieht man relativ selten, gefühlt seltener als in der Münchner Innenstadt. Und die Kleidung, die hier von den meisten getragen wird, ist genauso westlich wie die in Deutschland. Dennoch weiß ich, dass die Leute ziemlich sicher muslimisch sind, denn Christen gibt es hier fast nicht.

Wie erlebe ich das?

Dank Wikipedia wusste ich schon bevor ich im Kosovo ankam, dass die Einwohner überwiegend Muslime sind. Trotzdem gab es diesen Moment, in dem ich realisierte: Die Schülerinnen, mit denen du gerade sprichst, sind alle muslimisch. Du merkst es bloß nicht. Warum? Weil es kaum einen Unterschied macht, sie sind genauso Teenager wie die Jugendlichen in Deutschland. Natürlich, wenn man sich dann länger und tiefgehender unterhält, lernt man kulturelle Unterschiede, die teilweise auf der Religionsverschiedenheit basieren. Trotzdem macht es keinen Unterschied, wenn man gerade auf einem Schulausflug ist oder als Animator gemeinsam Spiele vorbereitet.

Warum fehlt mir diese Erfahrung? Wenn man mich jetzt fragt, wie viele Muslime ich vor meinem Freiwilligendienst gekannt habe, ist meine Antwort „vier – den Mitschüler aus der Grundschule, zu dem ich keinen Kontakt mehr habe, mitgezählt“. Keine besonders beeindruckende Zahl, nicht?

Extremismus

Ich schätze, eine Frage brennt euch jetzt noch unter den Nägeln: Wenn es so viele Muslime gibt, gibt es dann auch extremistische Muslime?

Natürlich gibt es hier Extremisten. Der traditionelle Islam hier ist zwar sehr liberal, aber saudi-arabische und türkische Moscheen gewinnen laut Einheimischen an Einfluss. Daher ist der Kosovo das Herkunftsland mehrerer Extremisten, die in Syrien kämpfen oder gekämpft haben.

Macht mir das Angst? Nein, denn Erhan A. – ihr kennt den Namen bestimmt aus den News von vor ein paar Jahren im Zusammenhang mit Islamismus – hat auch in Kempten gelebt. David G. – ebenfalls ein Extremist – kam sogar aus einer christlichen, deutschstämmigen Familie aus Kempten. Terroranschläge wie die Attacke auf den Berliner Weihnachtsmarkt am 19. Dezember 2016 gibt es hier bisher nicht.

Als vom Islam konvertierter Christ müsste ich aber eine andere Antwort geben, denn die werden von ihren Familienmitgliedern oft als eine Schande und als Verräter angesehen und müssen besonders zur Zeit um die Konversion mit Gewalt aus dem Familienkreis rechnen, auch wenn die Familie zu den liberalen Muslimen gehört.

Falls ihr noch Fragen habt, meldet euch bei mir! Ich beantworte sie gerne.

Liebe Grüße,

eure Bettina

PS: Das Bild oben entstand nicht im Kosovo sondern in Albanien. Aber hier in Gjilan gibt es natürlich auch (mindestens) eine Moschee.

Vom Beinahe-Fauxpas

Letztens war ich mit Jezuela und einem unserer Guards auf Besuch bei unserem verunfallten Mitarbeiter. Er liegt im Moment arbeitsunfähig zu Hause im Bett. Es war also ein Krankenbesuch. Wie man das eben so macht, bringt man natürlich etwas mit. Was ich nicht wusste, war, dass man zu einem Krankenbesuch ganz normale Nahrungsmittel mitbringt, also zum Beispiel Säfte und etwas zu essen. Schokolade aber ist den Geburtstagen vorbehalten. Was hatte ich gekauft? Natürlich Schokolade! Denn bei uns bringt man doch typischerweise Schokolade mit, ein Saft würde etwas verdutzt in Empfang genommen werden.

Jezuela hat es zum Glück noch früh genug gemerkt und hat mir gesagt, dass man zum Krankenbesuch keine Schokolade mitbringen kann. Ich war erstmal ziemlich verdutzt, aber es ist logisch: Wer hier krank ist, kann nicht arbeiten, kann also kein Geld verdienen um seine Existenz zu sichern. Im Gegensatz zu Deutschland gibt es eben keine Krankenversicherung. Daher ist ein Krankheitsfall existenzbedrohend – und das Einfachste, womit man helfen kann, sind richtige Lebensmittel.

Und was mache ich jetzt mit der Schokolade?

Nachdem wir das Haus des Verunfallten wieder verließen, war da also noch diese Schokolade in meiner Jackentasche. Jezuela und der Guard lehnten mein Angebot ab, sie gemeinsam zu verspeisen, deshalb hatte ich sie noch immer, als ich ins Taxi stieg, um zurück nach Don Bosco zu fahren. Der Taxifahrer konnte sogar Deutsch, da er eine Zeit lang im deutschsprachigen Raum gearbeitet hat. Er erzählte mir, dass er damals Dachdecker war, aber hier jetzt als Taxifahrer arbeiten muss. Dank Jezuela weiß ich, dass die Taxifahrer hier sehr gering bezahlt werden und es kaum zum Überleben reicht. Also ließ ich ihn am Ende der Fahrt das Wechselgeld behalten.

Und dann war da ja noch die Schokolade, die ich eigentlich zum Verschenken gekauft hatte. Sie allein in meinem Zimmer essen wollte ich nicht und die Salesianer sind auch nicht sie größten Schokoladenfans. Also erklärte ich ihm kurzerhand, warum ich sie übrig hatte und drückte sie ihm in die Hand. Er freute sich wahnsinnig – er hatte fünf Kinder und eine Frau zu Hause, denen er damit eine große Freude machen konnte. Aus lauter Dankbarkeit schrieb er die Nummer seines Taxis auf die Visitenkarte des Taxiunternehmens und gab sie mir. Wenn ich wiedereinmal ein Taxi bräuchte, könne ich nach speziell diesem Taxi fragen und er würde innerhalb von ein paar Minuten kommen, um mich zu fahren. Jetzt habe ich also quasi meinen persönlichen Taxifahrer. Und das dank einer Schokolade und ein bisschen Wechselgeld. Damit wären wir wieder beim Thema meines vorherigen Beitrags: Kleine Gesten.

Ich hoffe, ich konnte euch mit dieser kleinen Geschichte erfreuen!

Liebe Grüße, eure Bettina

Eine kleine Geste

Winterspiele

Hat euch auch schon einmal ein Kind damit überrascht, wie es sich verhalten hat? Mich jedenfalls schon. Während der Winterspiele habe ich Folgendes erlebt:

Das Spieleprogramm war schon um. Ich verließ gerade die Aula und lief an einem kleinen Mädchen vorbei, das Fotos an der Flurwand anschaute. Da die meisten Kinder jeden Tag kommen, sagte ich „Shihemi!“, also „Wir sehen uns!“, obwohl ich sie nicht wirklich kannte. Meine Hauptaufgabe ist es nämlich, Spiele vorzubereiten, während des Spiels Punkte zu zählen, nachher aufzuräumen und mit anderen Animatoren vorzutanzen. Daher kenne ich die Kinder leider kaum. Das Mädchen, etwa sieben oder acht Jahre alt, schien das nicht zu stören. Zunächst grüßte sie nur zurück, dann kam sie mir hinterher gerannt und fragte, ob ich gehen würde. Dann umarmte sie mich fest für ein Weilchen.

Eine einfache Umarmung, eigentlich eine Alltäglichkeit – oder? Trotzdem war zumindest für mich die Geste nicht so klein, wie sie erscheinen mag. Denn solche Gesten können einen Haufen Wertschätzung ausdrücken. Und wahrscheinlich kennt das Mädchen eine Bezeichnung für dieses Gefühl noch gar nicht, aber zeigen kann sie es trotzdem – mit so etwas Einfachem, völlig Kostenlosem wie einer Umarmung.

Das Spiel der Engel

Und noch etwas hat meine Aufmerksamkeit auf kleine Gesten gelenkt: Mit den Animatoren spielen wir seit Anfang Dezember ein Spiel, das mir Jezuela als „Game of the Angels“, also „Spiel der Engel“, übersetzt hat. Zu Beginn wird der Name jedes Teilnehmers auf kleine Zettelchen geschrieben. Dann zieht jeder einen Zettel. Für die Person, die man gezogen hat, ist man nun der Engel. Das heißt, man lässt ihr immer wieder anonym einen Brief oder eine Kleinigkeit zukommen. Dafür steht im Sektretariat eine Box, in die die Briefe und Geschenkchen gelegt werden.

Ich habe sehr schöne Briefe bekommen und eines Tages, als in der Mittagspause Tee und Gebäck verkauft wurde, um einen verunfallten Mitarbeiter finanziell zu unterstützen, wurde mir ein Tee, ein Kuchenstück, ein Muffin und noch ein Gebäck von ein paar Schülerinnen zu mir gebracht, mit lieben Grüßen von meinem Engel. Das war eine schöne Überraschung.

Genauso viel Spaß macht es, kleine Dinge zu basteln und Sprüche oder Briefe zu schreiben (die mir Jezuela alle auf Albanisch übersetzt hat, denn die Empfängerin spricht leider kaum Englisch – dankeschön, Jezuela!) und später mitzubekommen, wie sehr sich die Empfängerin darüber freut.

Ich hoffe, euch inspirieren meine Erlebnisse dazu, selbst mal euer Herz in die Hand zu nehmen und Leuten zu zeigen, dass ihr sie wertschätzt, selbst wenn nicht gerade ihr Geburtstag ist.

Liebe Grüße an alle daheim und vielen Dank, dass ihr mich unterstützt!

Eure Bettina

Woher sind die zwei Szenen?

Falls ihr meinen letzten Beitrag noch nicht gelesen habt: Den solltet ihr für ein besseres Verständnis unbedingt vor diesem Text lesen!

Schlaf gut

Die erste Inspiration stammt aus Gjilan, Kosovo. Wir waren spätabends auf dem Heimweg von Tirana, Albanien, und fuhren durch die Partymeile Gjilans. Da habe ich im Vorbeifahren die Frau mit ihrem Kind gesehen – so wie ich sie beschrieben habe. Ich kann natürlich nicht sicher sagen, ob die Beiden obdachlos sind, aber ich kann mir sonst keinen Grund vorstellen, dort mit Kind im Arm zu sitzen. Aber ich habe sie nur einige Sekunden gesehen, ich könnte also durchaus falsch liegen mit meiner Vermutung. Ansonsten habe ich im Kosovo bisher keine offensichtlich Obdachlose gesehen.

Dennoch gibt es viele Bettler, auch Kinder. Sowohl in Prishtina als auch in Tirana habe ich Kinder gesehen, die an roten Ampeln für Geld Autoscheiben geputzt haben. An meinem zweiten Tag im Kosovo sind wir für eine Messe – das Fest der Mutter Teresa – nach Prishtina gefahren. Nach der Messe haben Jezuela und ich in einem Straßencafé gegessen. Während wir dort unsere großen Portionen Burek – ein leckeres traditionelles Gericht – aßen, kamen zwei etwa elf- und achtjährige Mädchen zu uns. Die Kleinere der beiden bettelte um etwas – ich weiß nicht worum, vermutlich Geld. Jezuela bot ihr jedenfalls etwas von ihrem Essen an, nicht aber Geld. Sie nahm gerne etwas an. Dem anderen Mädchen, das sich auf der anderen Seite des Tisches mit etwas Abstand hingestellt hatte, bot ich daraufhin ebenfalls etwas an – sie sollte doch nicht leer ausgehen. Burek wollte sie nicht, aber eine Orangenscheibe lies sie sich gerne schmecken.

Zurück zur Obdachlosigkeit: Ich nehme an, dass es wenige Obdachlose gibt, weil hier der Familienzusammenhalt recht gut zu sein scheint. Trotzdem kann es für eine Familie schnell das finanzielle Aus bedeuten, wenn der Ernährer stirbt. Hier gibt es nämlich kein soziales staatliches System, dass Menschen in Not auffängt, wie wir es in Deutschland haben (aber selbst unser System hat Lücken). Deshalb ist hier Solidarität innerhalb der Verwandtschaft sehr wichtig.

Wo wir beim Thema Leben auf der Straße sind: Straßenhunde gibt es viele, sowohl im Kosovo als auch in Albanien. Diesen hier habe ich in einer Stadt in Albanien fotografiert, mitten in der Fußgängerzone. Er sieht noch relativ gesund aus, dafür, dass er auf der Straße lebt. Ich habe aber auch schon einen Hunde gesehen, die nicht nur ein bisschen zottelig und dreckig sind, sondern sichtbar unter dem Straßenleben leiden.

Wie ein Monster

Die zweite Inspiration trage ich seit meinem Besuch in Hamburg in meinem Kopf. Das war im Sommer 2017, als ich mit fünf Freundinnen einen Kurzurlaub in der Hansestadt gemacht habe. Dort bestaunte ich nicht nur die wunderschöne Elbphilharmonie – ich habe auch die Obdachlosen gesehen. An jedem Tag, in fast jeder U-Bahnstation, in vielen Straßen. Ich als Landei aus bayerischer Provinz bin den Anblick von armen, verwahrlosten Menschen nicht gewöhnt – ich hoffe, ich werde mich auch nie daran gewöhnen, selbst wenn ich hundert Jahre lang in einer Großstadt wohnen sollte.

Aber wir alle, die gesamte Gesellschaft, denken wir noch an sie? Oder haben wir uns schon an ihrem Anblick gewöhnt? Sehen wir die Lücken im System, durch die diese Menschen gefallen sind? Oder glauben wir, dass es ihnen nicht so ergehen würde, hätten sie sich nur etwas mehr angestrengt? Sagen wir „ihr Problem“ und gehen weiter? Oder versuchen wir, solidarisch zu sein mit Fremden? Wie viel von unserer – zumindest von einigen deutschen Politikern – viel beschworenen christlichen Leitkultur steckt in unserem alltäglichen Handeln?

Jetzt kommt der Teil für die Christen unter euch: In Lukas 10, 25 – 37 wird Jesus von einem Gesetzeslehrer gefragt: Wer ist mein Nächster? Und diese Frage müssen wir uns auch stellen, wenn wir davon sprechen, unseren Nächsten lieben zu wollen. Jesus jedenfalls erzählt ihm auf diese Frage das Gleichnis des barmherzigen Samariters. Die Schlussfolgerung darauf: Der, dem du gerade begegnest, dem du mit deinem Herzen in der Hand entgegentrittst, ist dein Nächster.

Für alle Nicht-Christen (aber natürlich auch für Christen):

Wollen wir als Einzelkämpfer leben? Oder wollen wir geben und nehmen?

Wollen wir, dass die einen im Überfluss leben, während die anderen leiden? Oder wollen wir gemeinsam unsere Leben meistern? Auch wenn es bedeutet, dass man meist weniger Geld hat, als man haben könnte, man dafür aber in Notsituationen genug Geld für ein würdiges Leben bekommt?

Hundert Mal zehn Cent sind zehn Euro

Ich möchte euch alle dazu aufrufen, jeden einzelnen Tag zu überlegen, wo ihr helfen könnt – es muss ja nicht so groß sein. Und es muss ja auch nicht gleich der nächste Obdachlose sein, der euch begegnet. Schon wenn jeder jeden Tages etwas Kleines tut, kommt einiges zusammen: Hundert Mal zehn Cent sind zehn Euro – oder hundert Mal eine scheinbar kleine Tat sind summiert eine größere Tat.

Ich weiß, manche von euch denken jetzt, die hat leicht reden, sie macht einen Freiwilligendienst, ein ganzes Jahr nur für andere! Aber der Freiwilligendienst bringt nicht nur den Leuten hier etwas, er bringt auch mir etwas: Ich darf ein Jahr im Ausland leben, eine neue Kultur und neue Menschen kennenlernen. Ganz zu Schweigen davon, dass man mir so einen Freiwilligendienst bei meiner Jobsuche wahrscheinlich positiv angerechnen wird (womit leider viele Unternehmen, die kommerziell Freiwilligenarbeit vermitteln, Werbung machen). Und selbst wenn es so eine große Sache wäre – besser geht immer. Auch ich bin kein Engel, auch ich muss mir in die ein oder andere Situation vorwerfen, in der ich nicht geholfen habe, obwohl es so einfach gewesen wäre. Lasst uns also gemeinsam den Mut haben, mehr zu tun!

Liebe Grüße! Eure Bettina

 

PS: Sollte euch das anregen, gleich sofort was zu tun – hier geht’s direkt zum Spenden. Und ihr dürft gerne kommentieren oder mir anderweitig schreiben, ob ihr diese Antworten erwartet habt.

Zwei Szenen

Heute berichte ich nichts. Stattdessen habe ich euch zwei kleine Texte aufgeschrieben. Die folgen Szenen basieren auf wahren Erlebnissen und Wahrnehmungen.

 

Schlaf gut

Der kleine Junge gähnte.

„Komm her.“ Seine Mutter zog ihn näher zu sich.

Er kuschelte sich an sie, zog die Beine an. Zusammengekauert wie ein Embryo lag er in ihrem Schoß, schmiegte sich in ihre Arme. In Gedanken versunken starrte er vor sich hin. Die ausgestreckten Beine seiner Mutter, ihre staubige Hose, an ihren Füßen schmutzige Gummischuhe. Dahinter passierten elegante Ballerinas, blank geputzte Lederschuhe, Highheels.

Er zählte sie wie Schafe. Bis ihm die Augen zufielen.

Seine Mutter spürte ihn schwer werden in ihren Armen. Sie seufzte, aber es war nicht zu hören. Zu laut der Beat der Tanzmusik des Lokals hinter ihr. Zu laut die Menschenmasse, von der sie nur durch eine hüfthohe Mauer getrennt war. Für ihren Sohn war die Tanzmusik längst zur Schlafmusik geworden.

Für Sie? Die Musik war Teil einer Welt, zu der sie keinen Zutritt hatte. Sie konnte diese Welt hören, sie konnte sie sehen. Aber niemals an ihr teilnehmen. Sie saß nur direkt davor. Nicht einmal einen Meter entfernt – aber dieser eine Meter war unüberwindbar.

 

Wie ein Monster

„Kann mir denn niemand wenigstens einen Euro geben!“ Die Frau war frustriert. Ihre längst nicht mehr weiße Mütze saß auf dünnen Haaren, die in ein gegerbtes Gesicht fielen. Sie schaute in die Gesichter all dieser Bahnfahrenden. Die einen schauten zu Boden, die anderen wagten einen Blick, sahen sogleich wieder weg und doch wieder hin. Mancher fingerte nervös oder verzweifelt am Saum seines Ärmels. Sie sah vieles: Gleichgültigkeit ebenso wie Mitleid. Als wäre sie ein Nichts. Angst und Ekel. Als wäre sie ein Monster.

Und sie wusste, keiner wollte sie sehen. Nicht einmal sie selbst. Sie brauchte keinen Spiegel, um zu wissen, wie sie aussah. Sie fühlte es. Die alten Klamotten, die Hose zerissen, darunter eine frische Wunde. Sie hatte sich an Dornen im Gebüsch neben der Bahnstation verletzt, als sie ihre Schlafnische verlassen wollte. Dreck haftete wie eine Staubschicht an ihrem ganzen Körper, hatte sie sich doch lange nicht mehr waschen können. Eines ihrer Augen war dunkel geschwollen, deswegen sah sie halbseitig nur unklar. Aber immernoch genug, um zu erkennen, dass hier wohl nichts zu holen war, zumal gerade die Bahn einfuhr. Ganz offensichtlich erleichtert, den zugigen, dreckigen Bahnsteig verlassen zu können, eilten die Wartenden in die Bahn. Die Türen schlossen sich, die Menschen brausten hinweg und ließen die Frau auf dem einsam grauen, trist gefliesten Betonklotz stehen.

 

Woher kommen diese Eindrücke?

Nur eine der beiden Inspirationen für diese Texte stammt aus dem Kosovo. Welche hat nicht hier stattgefunden und wo habe ich sie stattdessen gesehen? (Als kleine Hilfe: Ich war bisher in Österreich, Italien, Kroatien, Frankreich – und der dazugehörigen Insel Île de la Réunion, die neben Madagaskar liegt –, außerdem natürlich Deutschland und vor Kurzem das erste Mal in Albanien. Aus Albanien stammt auch das Bild zu Beginn des Beitrags: Ein Kind bereitet seine Utensilien zum Autoschweibenputzen her.)

Wenn ihr möchtet, könnt ihr eure Gedanken in die Kommentare schreiben oder mich anderweitig kontaktieren. Die Lösung werde ich in einer Woche veröffentlichen. Außerdem darf ich euch bereits einen Beitrag über meine bisherigen Albanienbesuche in Aussicht stellen.

Bis dahin! Eure Bettina