Vor zwei Wochen war das Camp der Mädchen,  jetzt waren die Jungs dran: nachdem sie insgesamt um einiges zahlreicher sind, wurden sie in zwei Gruppen eingeteilt. Die Älteren waren letzte Woche weg, ich war mit den Jüngeren diese Woche. Jünger heißt etwa 6-13 Jahre.

Anderes Camp, andere Situation: wir waren nicht nur zwei Betreuerinnen und zwei Köchinnen, sondern sechs Betreuer, eine Betreuerin namens Anna und drei Köchinnen – und das für die fast gleiche Anzahl der Kinder/Jugendlichen. Wir waren in einer Schule untergebracht, mit dem Auto etwa eine halbe Stunde von Kara entfernt. Das Dorf (oder ist es schon eine kleine Stadt?) heißt Kétao.
Strom und sanitäre Anlagen gibt es in einer Schule natürlich nicht. Dafür aber ein großes Gelände, perfekt um Fußball zu spielen; also haben wir z.B. ein Turnier veranstaltet, was über mehrere Tage ging. Wir haben getanzt, Gemeinschaftsspiele und Ausflüge gemacht.

Am Donnerstagvormittag sind wir in kleinen Gruppen auf den Markt gegangen und haben die Umgebung angeschaut. Es war der Tag des Fastenbrechens vom muslimischen Fastenmonat Ramadan, also an dem Tag ein großes Fest der Muslime. Nach einem Monat des Fastens war auf dem Markt wirklich nicht viel los. In Kétao sind etwa 70% Muslime. Je mehr man sich im Norden Togos befindet, desto mehr Moscheen findet man. Kara ist auch ein sehr muslimisches Gebiet, doch in Kétao zieht sich die Geschichte noch viel länger und komplizierter, so wie ich erfahren habe. Freitag, ein Tag wie jeder andere: man steht auf, weckt die Kinder, Frühsport, Hofkehren, Duschen, Frühstücken, Spielen, …Mittagessen, und ganz wichtig: Siesta. In den Mittagsstunden trifft man auf den Straßen nur ganz wenige Leute –normalerweise.
Am Freitag sollte es nicht so sein.
Im Halbschlaf höre ich Lärm und Geschrei auf den Straßen, zwei Köchinnen unterhalten sich im Raum auf Kabyé (Stammessprache) und immer wieder höre ich auf Französisch: „Il y a la guerre“. Es gibt Krieg. Ich schlafe wieder ein. Um 16:00 Uhr wache ich auf. Später als gewohnt, normal werden die Kinder um 15:00 Uhr geweckt. Ich gehe verschlafen aus dem Zimmer. Der Hof ist wie ausgestorben. Seit wann machen denn wirklich alle Kinder ausnahmslos Siesta?! Ich sehe, dass Justine, eine unserer Köchinnen, eine junge Studentin, die selbst das Foyer durchgemacht hat, wach ist und gehe zu ihr. Was ist hier los? Sie führt mich auf den kleinen Fußballplatz hinter den Klassenzimmern. Die ganze Umgebung ist in einen leichten Dunst getaucht. In Richtung Markt, vielleicht 1km von uns entfernt, steigt Rauch auf. „Es brennen mehrere Häuser. Sie haben alles angezündet.“
Verständnislos schaue ich sie an. Sie fängt an zu erzählen:
Ich selbst bin hier bis zu meinem 14.Lebensjahr aufgewachsen. Hier ist meine Heimat.
Die Geschichte der Muslime in diesem Gebiet zieht sich seit Jahrzehnten. Ursprünglich war hier alles traditionell (Kabyé) oder ein paar wenige christlich gläubig. Etwa in den 80ern kamen Muslime aus der Stadt Sokodé und haben ihren Glauben in Kétao verbreitet. Der „Imam“ (religiös-politisches Oberhaupt der Muslime) kam aus Sokodé. August 2012 ist er verstorben und somit sollte es im September 2012 zu Neuwahlen kommen. Es gab drei Kandidaten: Kandidaten der „richtigen Muslime“ aus Sokodé und ein „Kabyé-Muslim“. Letzterer hat die Wahlen gewonnen. Doch wie kann ein Kabyé der Chef derjenigen sein, die den Glauben erst verbreitet haben? Die Muslime aus Sokodé sind ganz und gar nicht einverstanden. Es kam im September 2012 zu einem Bürgerkrieg, der sogar soweit führte, dass der Präsident Togos selbst nach Kétao kam und richten musste: Wahl ist Wahl. Keiner kann dem Präsidenten widersprechen. Also zieht sich das Brodeln unter die Wasseroberfläche.

Donnerstag, der 09.08.2013. Es ist das Fest des Ramadan. Normalerweise gehen die Muslime zum Beten verteilt in mehrere Moscheen. Zum Ramadan gibt es ein großes Gebet zusammen.
Mit den Jungs auf dem Markt sehen wir viele Busse, voll mit Leuten. Alle tragen schöne Klamotten. Die Frauen und Mädchen jeden Alters tragen schöne Kopftücher und Schleier. Das Fest konnte wirklich beginnen, so hatte es den Anschein.
Aber wie konnten wir wissen, dass diese Busse die Gläubigen aus Sokodé in ein Dorf bringen, das relativ weit weg ist? Dort gibt es einen Priester aus Sokodé und sie können unter sich das Fest feiern und kränken somit den Priester aus Kétao.

Alex, ebenfalls ein Betreuer und Student, der das Foyer durchgemacht hat, stößt zu uns.
Beide erzählen:
Es hat direkt auf der Straße vor der Schule hier angefangen. Sie haben das Horn ertönen lassen. Das traditionelle Zeichen der Kabyé: „Egal, welche Waffe du gerade da hast, nimm sie in die Hand und geh aus dem Haus raus, es gibt ein Problem.“ In Massen sind sie in die Stadt gezogen und fackeln Häuser ab. Zu zweit waren wir stark genug loszuziehen um uns das ein bisschen anzusehen. Die Kinder schreien, das kannst du dir nicht vorstellen. Selbst Frauen waren in der Masse dabei. Alte Männer, die mitziehen wollten. Einen Mann, der nicht mehr richtig laufen konnte, der einen Stützstock benutzt hat, konnten wir überzeugen umzudrehen. Ein anderer hat sich nicht davon abbringen lassen. Keine Ahnung ob er es überlebt.

Immer wieder laufen Gruppen von fünf Männern in Richtung Rauchwolke. „Schau, sie sind nie alleine, mindestens zu viert oder fünft.“ Alle haben Waffen in der Hand. Ein Mann läuft nicht wie die anderen einfach an uns vorbei. Er schreit uns zu: „Wir gehen jetzt Schweine töten!“ und lacht.

16:30 Uhr. Die Jungs wachen auf und kommen aus den Klassenzimmern. Als wäre nichts gewesen, machen wir mit Gesellschaftsspielen weiter. Nach einiger Zeit kehrt die Menschenmasse in ihre Häuser zurück. Manche laufen über den Schulhof. Einer hat Pfeil und Bogen in der Hand. Ein 13-jähriger Junge kommt zu mir und sagt: „Anna, schau. Er hat Pfeil und Bogen. Wollen die sich umbringen?!“
Ich weiß es nicht. Wie viele Opfer gab es? Wie geht es weiter?

Obwohl sich das Ganze direkt vor meiner Nase abgespielt hat, kommt es mir so weit weg vor. Es war unser letzter Tag in Kétao, am Samstag haben wir noch eine kleine Messe gefeiert und sind alle zufrieden, aber ein bisschen müde von der Woche, nach Kara zurückgefahren.
Hier ist fast alles wie gewohnt. Mein Mitvolontär Dominic ist diese Woche schon nach Deutschland zurückgereist. Mir bleiben noch drei Wochen. Eins weiß ich: ich werde sie noch in vollen Zügen genießen.

Bis bald, eure Anna