Indien – anders als erwartet

Bevor ich erfuhr, dass mein Freiwilligendienst nach Indien gehen sollte, war ich dem Land gegenüber sehr skeptisch eingestellt. Im Geographieunterricht hatten wir vor allem die Schattenseiten Indiens behandelt: Sexuelle Gewalt an Frauen und Kindern, das Kastenwesen, das offiziell zwar abgeschafft ist, in der Realität jedoch weiterhin besteht und die riesige Armut mit überfüllten Städten und Slums. Wenn ich also an Indien dachte, kamen mir zunächst immer diese Bilder in den Kopf und nicht nur ich dachte so über das Land. Einige, denen ich von meinem Jahr in Indien erzählte, wünschten mir nur viel Glück und meinten, ich solle heil wieder zurückkommen und auch wenn das einfach nur eine nett gemeinte Floskel sein kann, schwang doch teilweise etwas Ängstliches mit. Mittlerweile kann ich kaum fassen, dass ich einmal ein so einseitiges Bild von diesem so vielfältigen Land hatte, denn obwohl diese Fakten leider durchaus zur Realität gehören, ist Indien so viel mehr als das. Über das Indien, das ich nun schon ganz gut kenne und immer mehr lieben lerne, möchte ich euch in diesem Beitrag ein bisschen mehr berichten.

Wenn ich morgens das Haus verlasse und mich auf den Weg ins YB (dem Headquarter Navajeevans) mache, um dort zu frühstücken, so werde ich bereits im untersten Stockwerk von dem, von uns sogenannten „Bananenmann“ etwas zurückhaltend, aber freundlich gegrüßt. Dort werden nämlich täglich Bananen geliefert und wieder weiterverkauft und mittlerweile verstehen wir uns so gut, dass er uns die schönsten Bananen raussucht, wenn wir welche (für wirklich wenig Geld) kaufen möchten. Weiter Richtung YB geht es dann erstmal an der „Gemüsefrau“ vorbei. Sie hat etwa zwanzig Meter von unserer Wohnung entfernt einen kleinen Gemüse- und zusätzlich um die Ecke seit einiger Zeit noch einen Currystand, an dem sie mit ihrer ganzen Familie hervorragende südindische Currys verkauft. Direkt neben ihrem Gemüsestand winke ich dann Liesl. Sie heißt zwar nicht wirklich so, aber bereits als ich hier vor über einem halben Jahr ankam, wurde mir ihr Tiffin, also das indische Streetfood, welches sie verkauft, wärmstens empfohlen. Nachdem ich nach rechts abbiege, lächelt mich freundlich unser „Wassermann“ an. Dieser besitzt einen kleinen Kiosk, in welchen es einfach alles gibt, in welchem wir aber vor allem zu Beginn kühles Wasser gekauft haben. Mittlerweile besitzen wir in der Flat einen Wasserfilter, weshalb wir bei ihm nun bevorzugt Curd (eine Art Jogurt) und Lassi holen. Bei „Sai dem Chiller“, wie wir ihn liebevoll nennen, komme ich als nächstes vorbei. Wir alle sind uns nicht ganz sicher, wie er seinen Tag verbringt, doch wir gehen davon aus, dass er sehr hinduistisch gläubig und dort bei den Menschen hoch angesehen ist, da immer wieder Leute zu ihm kommen, um mit ihm zu sprechen. Auch ihm winken wir alle und hin und wieder wechseln wir ein paar nette Worte mit ihm oder er schenkt uns Schokolade und wir bringen ihm eine Mango mit. Auf meinem restlichen Weg zum YB treffe ich meistens Kinder, die ich zwar leider oft nicht wiedererkenne, weil einfach so viele Leute hier leben und ich mir auch in den Projekten und in der Community so viele Gesichter und Namen versuche zu merken und trotzdem klatschen wir ab und man wird immer wieder nach seinem Namen gefragt. So sieht mein Weg zum YB aus und ich bin wirklich sehr froh, dass wir so viele liebe Nachbarn haben.

links erst Gemüse-, dann Tiffinstand, vor dem einige Leute essen
„Wassermann“-Kiosk

So wie die Straßen um unsere Flat herum, ist es hier häufig. Mindestens in jeder zweiten Straße ist ein Kiosk und ein Tiffinstand anzufinden. Auch Obst- und Gemüsestände oder sogar Märkte gibt es wirklich viele. Manchmal benötigt es ein bisschen Zeit bis man sie findet, doch mittlerweile, haben wir schon unsere Stammmärkte und -orte, zu welchen wir regelmäßig gehen. Neben einigen großen Supermärkten, in denen man wirklich vieles findet, sowohl Lebensmittel als auch Kleidung, alles Mögliche an Haushaltsgeräten, Schreibwarenzeug und noch vielem mehr, kaufen die Inder:innen und mittlerweile auch wir vieles in kleineren Geschäften. Hier sind sehr häufig mehrere mit denselben Waren an derselben Stelle angesiedelt. So findet man beispielsweise auf der Besant Road ausschließlich kleine Stoff- und Frauenkleidungsgeschäfte und es schieben sich zusätzlich noch Verkäufer mit Wagen voller Kleidung hindurch, auf einer weiteren Straße nur Printgeschäfte oder alle elektronischen Geschäfte im NTR-Komplex, einem alten Parkhaus mitten in der Stadt. All das ist zu Beginn etwas überfordernd. Man sucht nach einem, für uns typischen größeren und geordneten Geschäft, stattdessen findet man viele aneinandergereihte kleine Läden, in denen es teils viel Ähnliches zu kaufen gibt, man teilweise jedoch auch zum Nächsten oder zum Übernächsten geschickt wird, wenn die gewünschte Ware nicht vorhanden ist. Teilweise sind die Läden auch erst beim dritten Mal vorbeifahren als diese zu erkennen. So beispielsweise bei den Fahrradgeschäften, welche teils nur aus einem kleinen Stand oder einem Wagen bestehen, auf welchem verschiedene Utensilien liegen. Wenn es jedoch einmal als solches erkannt ist, so ist es umso praktischer, denn sobald etwas am Fahrrad nicht mehr funktioniert oder man während der Fahrt zur Arbeit bemerkt, dass der Reifen doch etwas platter ist als zunächst gedacht, so hält man auf dem Weg nur kurz vor einem solchen Stand an, zeigt auf den Reifen oder die demolierte Stelle und schon wird der Reifen aufgepumpt oder der Fahrradreparateur schraubt etwas am Radl herum, ölt noch einmal alles und innerhalb von 3 Minuten läuft es wieder wie geschmiert und all das für meistens 20 bis 30 Rupie (dies entspricht 20 bis 30 Cent). Bei Schneidereinen sieht es ähnlich aus. Hierbei handelt es sich meist um kleine, zur Straße hin offene Räume, vor welchen einige indische Kleidungsstücke hängen. Tritt man ein, so befinden sich dort meist zwei bis drei Nähmaschinen. Nachdem man Stoff oder Kleidungsstück gezeigt hat und anschließend ausgemessen wird, kann man dieses meist bereits am darauffolgenden Tag fertig abholen.

Besant Road mit Frauen, die um Wägen und Stände herumstehen
Schneiderei von innen (hier stehe ich im Eingang)

Durch all diese kleinen Geschäfte ist alles so viel unkomplizierter. Man benötigt keine Termine, muss nicht ewig warten und der Kontakt zu den Leuten dort ist einfach nett. Allgemein kommt es mir so vor, als wären die Menschen hier in Vijayawada alle so viel offener und hilfsbereiter als in Deutschland. Besonders auf der Straße wird einem immer geholfen, egal ob es dabei nur um Geldscheine wechseln geht, jemand mit dem Motorrad extra stehen bleibt, um einen nicht alleine an den kämpfenden Hunden vorbei gehen zu lassen, sofort jemand anhält, wenn die Fahrradkette rausspringt oder man angesprochen und einem Hilfe angeboten wird, wenn man etwas verloren herumsteht. Natürlich hat das auch etwas damit zu tun, dass wir weiß sind und somit hier in Indien doch meist auffallen, doch allgemein habe ich das Gefühl, dass sie sich auch untereinander, egal ob man sich kennt oder nicht, viel schneller einen Gefallen tun oder einfach mehr aufeinander achten. Da wir keine Inder:innen sind, wird uns vielleicht einmal mehr geholfen, jedoch hat dies hin und wieder auch seine negativen Seiten. Gerade zu Beginn mussten wir uns erst einmal daran gewöhnen, dass, sobald wir die Straße betreten, Blicke auf uns geheftet sind. Das ist nicht verwunderlich, denn besonders hier in Vijayawada trifft man nirgends auf Weiße. Mittlerweile bemerken wir das nicht mehr unbedingt. Was wir allerdings bemerken ist, dass wir doch sehr häufig auf unser Herkunftsland oder auf Fotos angesprochen werden. Auch wenn dies meist aus Interesse heraus geschieht, ist man nach dem fünften Mal an einem Tag (was auch nicht täglich so vorkommt) dann doch mal etwas genervt und wünscht sich, einfach mal nicht aufzufallen und nicht fremd zu sein. So tragisch ist dies aber nicht und so ärgert man sich eben mal kurz, es lässt sich aber sonst auch gut darüber hinwegblicken.

Oft wird sehr direkt kommuniziert. Es wird also nicht um den heißen Brei herumgeredet sondern, wenn ein Problem oder auch nur ein alltägliches Thema aufkommt, wird dieses direkt angesprochen. Das es hierbei auch mal zu etwas lauteren und intensiveren Diskussionen kommt, ist somit kein Wunder. Auch ich lerne davon, denn wenn alle so ehrlich und direkt miteinander umgehen, passt man sich automatisch mit der Zeit an. Wenn mir oder auch uns Volunteers im Allgemeinen etwas nicht passt oder wir Verbesserungsvorschläge für einzelne Projekte oder Themen haben, sprechen wir diese an und meist wird mit Verständnis reagiert. Wenn es darum geht Eigenes mit in die Arbeit einzubringen, genießen wir ebenfalls sehr viele Freiheiten. Wir können jederzeit Ideen einfließen lassen und selbstständig und im Grunde auch oft ohne Rücksprache handeln, wie wir es für richtig halten. So wollten Zora und ich beispielsweise zu Beginn des Freiwilligendienstes gerne vormittags in der Community in Penamaluru arbeiten, welche uns zuvor zweimal gezeigt wurde und so fuhren wir einfach hin und probierten es aus, was letztendlich sehr gut funktioniert hat. Auch jetzt, wo wir dort arbeiten, können wir selbst entscheiden, welche Aktivitäten wir mit den Kindern und Jugendlichen dort machen. So haben wir uns also vorgenommen auch die schulische Komponente mehr einfließen zu lassen. Mit dieser Selbstständigkeit, die ich sehr schätze, haben wir jedoch auch eine gewisse Verantwortung für all unsere Handlungen und Entscheidungen. Ja, wir können einfach vieles selbst entscheiden, aber so wird uns eben auch nichts abgenommen, wir können uns nicht unbedingt darauf verlassen, dass dort Mitarbeiter:innen sind, die uns genau sagen, was wir zu tun haben. Teilweise ist das auch etwas belastend, denn ich persönlich bin das von meinem deutschen Zuhause mit geregeltem schulischen Alltag zuvor natürlich nicht so gewohnt. Manchmal wünscht man sich auch hier noch eine „erwachsenere“ Person, die einem klare Anweisungen gibt, was zu tun ist, weil es eben doch einfacher wäre. Und trotzdem bin ich sehr froh, dass es nun so ist, ich dadurch auch aus mir herauskomme und daran wachse und wir so viele Freiheiten haben.

All das, was ich hier in diesem Beitrag schildere stellt ausschließlich meine Meinung und meine Sicht der Dinge dar. Mir ist sehr wohl bewusst und das möchte ich hier betonen, dass ich erst sieben Monate hier bin und deshalb natürlich nur einen wirklich wirklich kleinen Teil Indiens und auch Vijayawadas kenne. Wie gesagt, Indien ist so vielfältig und in jede andere Stadt und an jeden neuen Ort, an den man kommt, ist es wieder anders und man entdeckt Neues. Ich will hiermit also versuchen einige Vorurteile aufzulösen und euch mein Umfeld in Indien einfach ein bisschen näherbringen, da es für mich wirklich eine tolle und unvergessliche Zeit hier in Vijayawada ist.

Vor ihre Hauseingänge malen viele Inderinnen hier in Vijayawada mit feinem weißen Pulver täglich schöne Muster auf. Diese nennt man Rangoli. Sie stehen im Hinduismus für Glück und Freude, sollen das Göttliche einladen und gelten als Schutz vor Unglück.

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Wie die Zeit vergeht

  1. Teresa Stefenelli

    Hiiii Toni 🙂 Ich bin einer kleiner Fan deiner Blogs, die lesen sich wie ein Buch und jeder Eintrag ist ein neues Kapitel! Außerdem ist es superspannend, wie ich Benin in so vielen deiner Indienerzählungen wiedererkenne. Der Trubel, die vielen netten Verkäufer, die Hilfsbereitschaft und Kontaktfreudigkeit (auch wenn bei uns kaum jemand nach Fotos frägt, sondern immer ein „Weiße“-Gesang angestimmt wird). Ich freue mich schon auf das nächste Kapitel und GLG aus Afrika!

    • Hallo liebe Teresa, ich freu mich, dass du dich meldest und fühle mich fast ein bisschen geehrt, dass du meine Blogs liest.
      Dass es da zu Benin viele Ähnlichkeiten gibt, kann ich mir sehr gut vorstellen! Ganz liebe Grüße zurück!

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